Österreich ohne Sozialleistungen

Was wäre, wenn Sozialleistungen abgeschafft würden? Schwer vorzustellen, eigentlich. Ein Gedankenexperiment.

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In Zeiten hitziger politischer Debatten, wie sie derzeit stattfinden, kommt es in unschöner Regelmäßigkeit zu Angriffen auf die soziale Sicherheit. So werden bestimmte Sozialleistungen als zu hoch dargestellt, weil darunter die Arbeitsanreize angeblich leiden. Bei anderen sollen unliebsame Gruppen ausgeschlossen werden. Oder aber es wird das Ende der Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Wirtschaft an die Wand gemalt, weil der Sozialstaat zu teuer ist. Tatsächlich gibt der österreichische Staat rund 60 Prozent von allem, was er einnimmt (Steuern, Beiträge zur Sozialversicherung, Gebühren), für die soziale Sicherheit aus. Das ist viel Geld. Zu viel, wie einige meinen. Da könnte man viel einsparen. Ja, könnte man. Aber was wären die Konsequenzen?

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir alle von den Leistungen des Sozialstaats profierten. Und zwar wirklich alle! Es gibt Sozialleistungen, die unseren Lebensstandard im Fall von Arbeitslosigkeit oder Alter sichern: Arbeitslosengeld und öffentliche Pensionen. Die Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung, der Notstandshilfe oder der Ausgleichszulage schützen Menschen vor Armut. Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld, Alleinverdiener- oder Alleinerzieherabsetzbetrag unterstützen Familien dabei, ihren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Darüber hinaus gibt es die Leistungen der Kranken- und der Unfallversicherung, Hinterbliebenenleistungen, Wohnraumförderung, Pflegegeld und noch vieles mehr. Auch arbeits- und sozialrechtliche Schutzbestimmungen müssen hier mitgedacht werden. Zum Beispiel Kündigungsfristen, die verhindern, dass arbeitende Menschen auf einmal vor dem Nichts stehen, die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder kollektivvertragliche Mindestlöhne.
Selbst für den Fall, dass jemand aktuell keine dieser Leistungen in Anspruch nimmt, wird er oder sie das schon einmal getan haben und – aller Voraussicht nach – irgendwann wieder tun. Denn: Der Sozialstaat und seine Leistungen begleiten uns durch das gesamte Leben. Darüber hinaus bekämpfen die Sozialleistungen über viele Wege die Armut und erhöhen damit die Lebensqualität von uns allen.

Was wäre nun, wenn diese Leistungen abgeschafft würden? Es gäbe plötzlich keine Unterstützung mehr für Familien; kein Wochengeld, kein Kinderbetreuungsgeld und auch keine Familienbeihilfe. Keine kostenlosen Impfungen für Kinder, kein Gratiskindergartenjahr und keine Gratisschulbücher. Und wer zahlt die Lehrerinnen und Lehrer eigentlich? Ach ja, die öffentliche Hand!
Arbeitslose müssten einen Teil ihres Einkommens für schlechte Zeiten auf die Seite legen. Und wenn das aufgebraucht ist, vielleicht sehr schlecht bezahlte Arbeit annehmen. Denn auch Kollektivverträge sind soziale Leistungen, die es dann nicht mehr gäbe.
Um sich einen Lebensabend ohne Armut zu ermöglichen, wären wir gänzlich auf private Versicherungsleistungen angewiesen. Leistungen, die in hohem Maße den Schwankungen des internationalen Finanzsystems ausgesetzt sind. In der Alterssicherung würde es einen besonders großen Unterschied machen, welche finanziellen Möglichkeiten man hat. Ohne Leistungen wie die Ausgleichzulage, für Menschen, die lange Zeit ins Versicherungssystem eingezahlt haben, gäbe es keine Grundsicherung im Alter. Ohne die Anrechnung von Kindererziehungszeiten, wie in der gesetzlichen Pensionsversicherung, würde diese gesellschaftlich wertvolle Arbeit nicht honoriert werden. Private Versicherungen berücksichtigen solche Arbeit nicht.
Am meisten Sorgen machen sollte uns vielleicht eine Privatisierung der Krankenversorgung. Sinkendes Versorgungsniveau bei steigenden Kosten wäre für viele von uns die zu erwartende Konsequenz. Umgekehrt könnten mit hohen Beiträgen besonders gute Leistungen erkauft werden. Ein Blick auf die USA ist vermutlich das überzeugendste Argument gegen ein solches Szenario.

Natürlich, so werden KritikerInnen einwenden, würde der Verzicht auf den Sozialstaat auch bedeuten, dass den arbeitenden Menschen mehr Geld von ihrem Arbeitseinkommen bleibt. Geld, dass sie dann nach ihren eigenen Vorstellungen verwenden können. Das wird aber für die meisten eher ein Nachteil als ein Vorteil sein. Zum einen könnten es sich viele von uns gar nicht leisten, mit dem öffentlichen Sozialsystem vergleichbare Privatleistungen zu bezahlen, da sie in der Regel teurer sein werden. Nicht nur, aber im Besonderen jene, die nicht (mehr) arbeiten können. Zum anderen – und das ist vielleicht noch viel wichtiger – ist Demokratie nur möglich, wenn die Gemeinschaft zusammen darüber entscheiden kann, was mit ihren finanziellen Mitteln geschieht. Der Sozialstaat verteilt um; zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Gesunden und Kranken. Er verteilt nicht nur Geld, sondern auch Möglichkeiten um. Die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens, die Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, die Möglichkeit mitzubestimmen. Je weniger Sozialstaat es gibt, desto eher können jene ihre Ziele durchsetzen, die über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen.
Der verstorbene deutsche Ex-Kanzler Helmut Schmidt nannte den Sozialstaat „Europas größte kulturelle Errungenschaft im 20. Jahrhundert“. Und das sicher zu Recht.

Norman Wagner, Ökonom und Sozialstaatsexperte der Arbeiterkammer Wien

Zuerst erschienen in Zeitschrift der ÖPA (Österreichische Plattform für Alleinerziehende) 03/2017, www.alleinerziehende.org

Veröffentlicht am 18. Oktober 2017