Faktencheck Mindestsicherung: Höchste Zuwachsraten in Bundesländern mit niedrigem Leistungsniveau
Die Armutskonferenz hat nachgerechnet. Die Realität hält sich nicht an die Theorie vom Lohnabstandsgebot. Arbeitslosigkeit in keinem Zusammenhang mit Leistungshöhe der Mindestsicherung
(11.02.2016) Weil die Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung(BMS) zu hoch seien, würden viele BezieherInnen freiwillig erwerbslos bleiben, ist in letzter Zeit häufig zu hören. Deshalb müsse man die BMS kürzen oder zumindest deckeln, um jene Arbeitsanreize zu schaffen, die derzeit angeblich fehlen. Wenn diese Thesen stimmen würden, müsste sich das aus den BMS-Daten und anderen Quellen ablesen lassen. Die Armutskonferenz hat deshalb recherchiert und nachgerechnet. Das Ergebnis: die Realität ist nicht so simpel, wie man uns glauben machen will.
Es sind nicht die Bundesländer mit den höchsten Mindestsicherungs-Leistungen (Tirol und Vorarlberg), in denen die Erwerbslosigkeit von Personen mit schlechten Verdienstchancen auf dem Arbeitsmarkt am höchsten ist. Im Gegenteil: die Erwerbslosigkeit dieser Gruppe liegt dort weit unter dem Österreich-Durchschnitt. Es zeigt sich kein Zusammenhang von Höhe der Arbeitslosigkeit mit der Leistungshöhe der Mindestsicherung.
In Tirol, dem Land mit den höchsten BMS-Leistungen in unseren Rechenbeispielen, waren im Jahresdurchschnitt 2015 17,5 % der Personen mit maximal Pflichtschul-Abschluss von Erwerbslosigkeit betroffen. Damit lag die Arbeitslosen-Quote dieser Gruppe weit unter dem Bundes-Durchschnitt von 26%. Umgekehrt hatte Kärnten, das Bundesland mit den niedrigsten BMS-Leistungen aller Bundesländer, mit 31,1% eine deutlich überdurchschnittliche und nach Wien, das mit seinen Leistungen im Mittelfeld liegt, die zweithöchste Erwerbslosenquote von Personen mit maximal Pflichtschulabschluss.
Ob Personen mit geringer formaler Ausbildung einen Job haben oder nicht, hängt ganz offensichtlich nicht zuerst mit der Leistungshöhe der Mindestsicherung zusammen. Entscheidender sind die Bedingungen auf den regionalen Arbeitsmärkten und Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte.
Höchste Zuwachsraten in Bundesländern mit niedrigem Leistungsniveau
Umgekehrt gilt: der Anteil der MindestsicherungsbezieherInnen an der Bevölkerung ist nicht in den Bundesländern im oberen Anspruchs-Bereich am höchsten. Und auch die Zuwachs-Raten sind nicht in Tirol und Vorarlberg am höchsten, sondern wiederum in den Bundesländern, die zur Gruppe der Länder mit niedrigem Leistungsniveau zählen.
Betrachtet man den Anstieg der LeistungsbezieherInnen seit 2012, zeigen sich die stärksten Anstiege nicht vorrangig bei den Ländern mit den höchsten Leistungen: In OÖ und NÖ, die zur Gruppe der Bundesländer mit niedrigen bzw. mittleren Leistungshöhen zählen, sind die Anstiege mit + 23,8% bzw. + 27,3% wesentlich höher als in Tirol (+13,0%), dem Land mit dem in unseren Beispielen höchsten Leistungsniveau.
In der Logik des Armutsfallen-Theorems ist die Verlockung, Mindestsicherung zu beziehen statt auf Erwerbsarbeit zu setzen, umso größer, je mehr Personen versorgt werden müssen. Die Wirklichkeit hält sich aber nicht an die Theorie und zeichnet ein ganz anderes Bild.
Nach dieser Logik müssten jene Haushalte am häufigsten BMS beziehen, für die das am rentabelsten wäre, also jene mit vielen Mitgliedern. Die Daten zeigen: das Gegenteil ist der Fall. Gerade einmal 2% aller BMS-beziehenden Haushalte setzen sich aus Paaren mit 4 oder mehr Kindern zusammen. Mehr als 60% aller BMS-BezieherInnen leben alleine oder sind als einzige Person im Haushalt anspruchsberechtigt.
Wenige Dauerbezieher, Mehrheit kurzzeitig: Pendler zw Job und BMS, Working Poor
Weiters zeigen die Daten, dass die überwiegende Mehrzahl Mindestsicherung kurzzeitig bezieht. Die durchschnittliche Bezugsdauer beträgt zwischen 6 und 9 Monaten, bei 20% der unterstützten Haushalte ist sie kürzer als 3 Monate. Viele kommen raus, andere pendeln zwischen prekären Jobs und BMS, andere arbeiten mit Teilhilfe aus Mindestsicherung in schlecht bezahlten Jobs. Dauerbezieher sind in Wien beispielsweise unter 10%. Auch hier stimmt das Armutsfallen-Theorem nicht.
Reale Menschen ticken nicht so simpel, wie die Theorie glauben machen will. Natürlich spielt Geld eine wichtige Rolle. Aber reale Menschen sind schlauer und stellen sich eine Vielzahl an Fragen, wenn es darum geht, ob sie gerne erwerbstätig wären oder nicht. Es stellen sich Fragen wie: Kann ich Job und Kinderbetreuung unter einen Hut bringen? Bekomme ich später wieder einen Job auf meinem Qualifikationsniveau, wenn ich mich jetzt „unter Wert“ verkaufe? Aber auch: Was denken die NachbarInnen von mir, wenn ich die ganze Zeit zuhause bin? Was soll ich auf Dauer die ganze Zeit über mit mir anfangen? Was heißt das für meine Altersversorgung etc.? Bei der Frage, ob jemand erwerbstätig sein will oder nicht, geht es eben auch um Fragen der Unabhängigkeit, der gesellschaftlichen Anerkennung, um den Wunsch nach Tagesstruktur und einer sinnstiftenden Beschäftigung.
Eine freie Stelle auf 16 Arbeitssuchende
Die Ursachen liegen offensichtlich anderswo: Bei fehlenden Arbeitsplätzen, steigenden Wohnkosten in den Städten, physischen und psychischen Beeinträchtigungen, prekären und nichtexistenzsichernden Jobs.
Das Hauptproblem bleibt: Es gibt zu wenig Jobs. Im Dezember 2015 kamen im Österreich-Schnitt auf eine beim AMS gemeldete freie Stelle 16,1 Jobsuchende. Daran können Kürzungen und Deckelungen bei der BMS nichts ändern.