Faktencheck zur Kampagne der VP NÖ: Diffamierend und Falsch
Kampagne unterschlägt fast 1000 Euro im Monat: Familie des Tischlers hat um 770€ mehr als die Mindestsicherung beziehende Familie.
(03.06.2016) Die Volkspartei Niederösterreich hat laut eigener Darstellung eine Kampagne „für die Leistungswilligen im Land“ gestartet, nach dem Motto „Wer arbeiten geht, darf nicht der Dumme sein“. Bei genauerer Betrachtung geht es aber nicht darum, das auch in NÖ drängende Problem der „Armut trotz Arbeit“ aufzugreifen. Die „Kampagne für die Fleißigen“ ist in Wirklichkeit eine Anti-Mindestsicherungs-Kampagne. Die berechtigte Wut derer, denen trotz Fleiß kein Preis winkt und die trotz Erwerbsarbeit Probleme haben, über die Runden zu kommen, soll gegen jene gerichtet werden, die auf Mindestsicherung angewiesen sind und sie auch in Anspruch nehmen. „Die Kampagnen aus den politischen Parteibüros arbeiten mit alten Vorurteilen und vermitteln ein überholtes Bild der ‘Sozialhilfe alt‘ aus den 70er-Jahren“, bedauert die Armutskonferenz.
Was nicht gesagt wird, damit Kampagne „funktioniert“
Die Armutskonferenz hat nachgerechnet. Eine Summe von 863 € im Monat wird "unterschlagen", die der Familie des Tischler-Gesellen im Jahr zusätzlich zu monatlichem Erwerbseinkommen und den Familienleistungen des Bundes zur Verfügung stehen bzw. stehen könnten. Das heißt: Entgegen der Darstellung der NÖ Volkspartei hat nicht die Mindestsicherung beziehende Familie, deren Einkommen durch die im Beispiel genannten Befreiungen um ca. 39,50 € Monat erhöht wird (exkl. Vergünstigungen im konkreten Krankheitsfall), unterm Strich mehr an verfügbaren Einkommen. Sondern die Familie des Tischler-Gesellen hat aufs Monat umgerechnet um 770 € mehr als die Mindestsicherung beziehende Familie! Und hat ebenso wie die Mindestsicherung beziehende Familie Anspruch auf Rezeptgebühren-Befreiung auf Antrag. Hinzu kommen zusätzliche Ansprüche in Arbeitslosen- und Pensionsversicherung, sowie die steuerliche Absetzbarkeit von außerhäuslicher Kinderbetreuung.
Interessantes Detail am Rande: die Familie des Tischler-Gesellen hätte, sofern sie in einer Mietwohnung lebt, selbst Anspruch auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung – und gleichzeitig jede Menge Gründe, diese nicht in Anspruch zu nehmen (unter anderem: Pflicht zur Vermögensverwertung, dh. Sparbuch auflösen, Auto, Lebensversicherung, Bausparvertrag, Haus und Grund veräußern,…).
Addiert man alle Ansprüche, Förderungen und Vergünstigungen, dann ergibt sich eine Summe von 863 € (ohne Familienleistungen des Bundes) bzw. 1.260 € (incl. Familienleistungen des Bundes), die der Familie des Tischler-Gesellen im Jahr 2016 pro Monat (Jahreszwölftel) zusätzlich zu ihrem Netto-Einkommen von 1.589 € zur Verfügung steht bzw. stehen könnte. In Summe ergibt sich ein verfügbares Monats-Einkommen (Jahreszwölftel) von 2.451,62 € vor bzw. 2.848,55 € nach Familienleistungen des Bundes
Zu den Details: Was nicht gesagt wird, damit die Kampagne gegen MindestsicherungsbezieherInnen „funktioniert“:
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Zum einen wird im Vergleich einer Mindestsicherung beziehenden Familien mit der Familie eines Tischler-Gesellen ein nur eingeschränkt repräsentatives Beispiel einer
Mindestsicherung beziehenden Familie skizziert. Konkret hatte man wohl eine asylberechtigte Familie vor Augen, deren erwachsene Mitglieder den Einstieg in den Arbeitsmarkt (noch) nicht geschafft haben und die deshalb Bedarfsorientierte Mindestsicherung in voller Höhe bezieht (bzw. beziehen muss). Asylberechtigte stellen in der Mindestsicherung aber nach wie vor eine Minderheit dar. Nachdem subsidiär Schutzberechtigte Anfang 2016 in NÖ vom Anspruch auf Mindestsicherung ausgeschlossen wurden, ist die Zielgruppe außerdem kleiner geworden. Es liegen weder für Österreich noch für Niederösterreich veröffentlichte Daten vor, von wie vielen asylberechtigten Menschen in der Mindestsicherung konkret auszugehen ist. Aus einer Anfrage im NÖ Landtag geht allerdings hervor, dass im Jahr 2014 Drei Viertel (74%) ─ und damit eine satte Mehrheit ─ der Mindestsicherungs-BezieherInnen ÖsterreicherInnen waren. Und diese erhalten Bedarfsorientierte Mindestsicherung in aller Regel als aufstockende Leistung, nicht im Vollbezug. -
Zum anderen werden im Beispiel auf (unselbständig) Erwerbstätige beschränkte Ansprüche und Vorteile einfach unter den Tisch fallen gelassen, obwohl die Liste lang ist: Zwei Sonderzahlungen; Alleinverdiener-Absetzbetrag und Kinderfreibetrag im Rahmen der Arbeitnehmer-Veranlagung; Pendlerpauschale, Pendlereuro und NÖ Pendlerhilfe, NÖ Wohnzuschuss im geförderten Wohnbau sowie NÖ Heizkostenzuschuss.
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Und drittens hat die Familie des Tischler-Gesellen aufgrund ihres niedrigen Netto-Einkommens ebenso Anspruch auf die Befreiung von der Rezeptgebühr und die weiteren daran anknüpfenden Vergünstigungen in der gesetzlichen Krankenversicherung wie die Mindestsicherung beziehende Familie. Anders als diese muss sie allerdings einen Antrag stellen.
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Gleichgestellt sind die beiden Familien bei den Familienleistungen des Bundes: die Summe aus Familienbeihilfe & Co ist für beide gleich hoch.
Überholtes Bild der Sozialhilfe aus den 70er Jahren
Die Kampagnen aus den politischen Parteibüros arbeiten mit alten Vorurteilen und vermitteln ein überholtes Bild der ‚Sozialhilfe alt‘ aus den 70er-Jahren. Die Zusammensetzung der Menschen, die Mindestsicherung beziehen, hat sich in den letzten zehn Jahren soziologisch aber stark verändert: Es sind viele, die es sich nie gedacht hätten. Ein großer Teil sind Kinder bzw. Minderjährige. Die allerwenigsten Bezieher leben ausschließlich von BMS. Die große Mehrheit braucht sie, um nicht existenzsichernde Leistungen der
Arbeitslosenversicherung aufzustocken. Bei den BMS-Beziehern geht es z.B um Frauen, die im Zuge einer Scheidung auf Unterhalt verzichtet und deshalb auch keinen Anspruch auf Witwenpension haben. Oder um Menschen mit erheblicher Behinderung, die in Privathaushalten leben. Oder um Gering-Verdienende mit mehrköpfiger Familie, für die in Summe der Lohn nicht reicht. Oder um pflegende Angehörige, die von der Pflege so in Anspruch genommen sind, dass sie daneben nicht erwerbstätig sein können.
„Die Betroffenen haben die abwertende und diffamierende Rede von Politikern wirklich satt“, berichten die Mitglieder der Armutskonferenz aus ihrer täglichen Arbeit. Ein „eigentlich bescheidender, aber dringlicher Wunsch“ ist uns allen, dass die „abwertende und falsche Rede über MindestsicherungsbezieherInnen jetzt ein Ende nimmt“.
Details in der überarbeiteten Langversion: Faktencheck#3
Weitere Faktenchecks
Faktencheck#1 (Feb 2016): Höchste Zuwachsraten in Bundesländern mit niedrigem Leistungsniveau
Faktencheck#2 (Feb 2016): Tatsächlich erhaltene Mindestsicherungs-Leistungen für Familien nur 39% der maximal möglichen Höhe