"Mindestsicherungslücke": Nicht-Hilfe und Sozialbürokratie
In manchen Bundesländern bekommen nur 20% das, was ihnen helfen würde. Der Deckungsgrad der Mindestsicherung ist in Wien mit 77% am besten, in NÖ nur 32%, in OÖ 24% und in Kärnten 20%.
(19.08.2013) Aktuelle Berechnungen der Armutskonferenz zeigen: die Zahl der Einkommensarmen in Österreich, die trotz Anspruch keine Mindestsicherung erhalten, ist enorm. Die wahren Probleme in der Mindestsicherung lauten deshalb nicht "soziale Hängematte" und "Missbrauch", sondern Nicht-Hilfe und Sozialbürokratie. Die Zahl der EmpfängerInnen von Geldleistungen der Mindestsicherung (dh., ohne SeniorInnen- und Pflegeheime) steht in keinem Zusammenhang mit der Zahl der Einkommensarmen unter der Mindestsicherungsschwelle. Auffallend ist, dass es bei der Größe der Mindestsicherungslücke gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt.
So haben in Kärnten nur 20% der Personen, die unter der Einkommensgrenze leben, im Jahr 2011 zumindest einmal eine Mindestsicherungsleistung erhalten. In Oberösterreich waren es 24%, in Niederösterreich nur 32% der Hilfesuchenden. Im Schlussfeld weiters die Steiermark (33%) und Burgenland (35%). Die Mindestsicherungslücke spannt sich also von 80% (Kärnten) bis 23% (Wien). Am besten werden Menschen mit Hilfebedarf offensichtlich in Wien erreicht. Hier ist der Deckungsgrad 77%.
Diese Verhältnissetzung ist sehr vorsichtig und konservativ gerechnet. Würde man die BezieherInnen der Mindestsicherung in die Grundgesamtheit mit einbeziehen, ergäbe sich eine noch viel größere Lücke: Kärnten läge bei 17% Deckungsgrad, Wien nur mehr bei 44%. Die Nicht-Inanspruchnahme wird so möglicherweise in der ersten Tabelle noch unterschätzt.
Siehe Tabelle „Mindestsicherungslücke. Kommt die BMS an?“
Scham, bürgerunfreundlicher Vollzug, am Land weniger Mietwohnungen
Zehntausende Menschen in Österreich erhalten offensichtlich nicht, was ihnen zusteht und helfen würde. Die Gründe: Uninformiertheit, Scham und grobe Mängel im Vollzug. In den Städten ist die Inanspruchnahme prinzipiell höher, weil eine große Zahl Einkommensarmer vom Land in die anonymere Stadt zieht oder geschickt wird, weil die Inanspruchnahme in Großstädten in ganz Europa um ein vielfaches höher ist, weil es am Land weniger Mietwohnungen und mehr Hausbesitz gibt – und weil manche Bundesländer einen besonders willkürlichen und bürgerunfreundlichen Vollzug aufweisen. Beispielsweise werden in Niederösterreich nur 17.000 Anträge gestellt, in Wien 150.000: die Gewährung ist aber gleich - in beiden Ländern werden zwei Drittel der Anträge positiv beschieden.
Diese Zahlen sind ein weiterer eindrücklicher Beleg für die hohe Nicht-Inanspruchnahme von Mindestsicherung in Österreich. Zehntausende erhalten nicht, was ihnen helfen würde. Wer schnell hilft, hilft doppelt. Ein bürgerfreundliches und grundrechtsorientiertes unteres soziales Netz verbessert den Zugang. Barrieren auf den Ämtern verlängern die Notsituation, die Hilfe wird umso schwieriger und teurer. Bei Verwaltungsreform und Demokratiepaket dürfen diejenigen nicht vergessen werden, die eine gute Verwaltung und gleichen Zugang zum Recht - egal ob arm oder reich- am meisten brauchen.
Ein Drittel Kinder, ein Drittel Beschäftigte mit Niedrigeinkommen
„Menschen stürzen ab. Es sind Leute wie Du und ich. Junge und Alte, Mütter und Väter, Familien - ein Drittel aller MindestsicherungsbezieherInnen sind Kinder“, klärt die Armutskonferenz über die wahre Zusammensetzung auf. Gründe dafür sind prekäre Jobs, nicht-existenzsichernde Notstandshilfeleistungen, Arbeitslosigkeit, psychische Erkrankungen und hohe Lebenshaltungskosten beim Wohnen. Prekäre Jobs mit daraus folgendem nicht existenzsichernden Arbeitslosengeld nehmen zu. Die neuen „working poor“ erhalten „Richtsatzergänzungen“, um zu überleben. Weiters haben Personen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen am Arbeitsmarkt schlechte Chancen. Besonders nehmen depressive Erschöpfungszustände zu: „4 von 10 BezieherInnen haben gesundheitliche Beeinträchtigungen“, sagt uns eine Studie aus Wien. Und die steigenden Lebenshaltungskosten beim Wohnen wirken sich bei geringem Einkommen überproportional stark aus. „Das alles sind nicht die ganz anderen“, betont die Armutskonferenz, „sondern es trifft viele, die es sich nie gedacht hätten. 27% der BezieherInnen sind Kinder und Jugendliche in Mindestsicherungshaushalten. 30% sind Beschäftigte mit niedrigem Einkommen oder Personen die ihre Arbeitskraft nicht einsetzen können, z.b: pflegende Angehörige oder Mütter mit Kleinkindern.“, so die Armutskonferenz abschließend.