Für ein Arbeitslosengeld, das vor Absturz bewahrt!
Das Arbeitslosengeld ist in Österreich zu niedrig.
Streichen, kürzen, sperren. Das sind die Zeitworte, die die Arbeitsmarktdebatte beherrschen. Doch die Wahrheit ist: das Arbeitslosengeld ist zu niedrig.
Dieses Video wurde gefördert aus Mitteln des Sozialministeriums
1.
Das Arbeitslosengeld ist in Österreich zu niedrig, egal ob nach zwei, sechs oder 14 Monaten Arbeitslosigkeit. Und wir haben bereits jetzt degressive, also mit der Dauer sinkende, Leistungen für Erwerbsarbeitslose.
Wie viele Menschen arbeitslos sind, hängt nicht direkt mit der Höhe des Arbeitslosengeldes zusammen. Wenn das so wäre, müsste es in den Ländern mit dem niedrigsten Arbeitslosengeld auch die wenigsten Arbeitslosen geben. Das trifft nicht zu.
Das Arbeitslosengeld erklärt nur einen kleinen Bruchteil der Arbeitslosigkeit. Einen viel größeren Einfluss auf die Zahl der Arbeitslosen haben andere Faktoren wie Bildungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik.
2.
Für Langzeitarbeitslose ist die Möglichkeit, Geld dazu zu verdienen, sozial- und arbeitsmarktpolitisch wichtig. Ohne Zuverdienst können viele ihre Schulden nicht regeln, und ohne Schuldenregelung finden sie keinen Job wegen der Lohnpfändung. Das sehen wir zum Beispiel in der Schuldenberatung wo 40% der Ratsuchenden arbeitslos sind.
Für Menschen, die wegen einer schweren psychischen Erkrankung lange arbeitslos sind, ist der Zuverdienst auch auf eine andere Weise existentiell. Er hilft den Tag zu strukturieren, soziale Kontakte zu pflegen und selbst aktiv zu bleiben.
Und: Langzeitarbeitslose, die dazu verdienen können, bekommen auch rascher wieder einen vollwertigen Job. Das zeigt eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts. Der Zuverdienst ist bei dieser Gruppe also auch arbeitsmarktpolitisch sinnvoll.
3.
Über die Hälfte aller Arbeitslosen (52%) ist armuts- und ausgrenzungsgefährdet. Das führt unter anderem dazu, dass Arbeitslose auch stark von psychischem Druck und Existenzangst betroffen sind. Rund 800.000 Menschen in Österreich rechnen damit, dass sie in den nächsten Monaten ihre Wohnkosten nicht mehr bezahlen können – auch hier sind Arbeitslose am stärksten betroffen.
Die Debatte rund um Streichungen, Kürzungen und Sperren dient auch als Drohmittel, um Menschen dazu zu bringen, schlecht bezahlte, prekäre Jobs anzunehmen. Diese Jobs aber machen krank. Das muss aufhören! Anstatt durch Kürzungen Frauen, Männer und Kinder an den sozialen Rand zu drängen, muss Erwerbsarbeit besser bezahlt und abgesichert werden.
4.
Ein besseres, höheres Arbeitslosengeld schützt davor, in die Sozialhilfe zu fallen. Das zeigen auch die neuesten Daten aus der Corona Zeit. Denn in dieser Zeit ist die Zahl der Menschen mit Sozialhilfebezug nicht angestiegen. Der Grund waren die sozialen Maßnahmen beim Arbeitslosengeld wie die Erhöhung der Ausgleichszulage oder die Angleichung der Notstandshilfe auf das zuletzt bezogene Arbeitslosengeld. Das hat präventiv gewirkt – und den sozialen Absturz vieler aus der unteren Mittelschicht verhindert.
Wer beim Arbeitslosengeld streicht und kürzt, erhöht die Betroffenen in der Sozialhilfe. Andersrum ist wesentlich sinnvoller: Ein besseres und höheres Arbeitslosengeld schützt uns alle!
Hintergrund
- Das österreichische Arbeitslosengeld ist bereits jetzt degressiv. Die bestehenden ALV-Leistungen sind jetzt schon der Höhe nach und im Zeitverlauf gestaffelt (abhängig von der Beschäftigungsdauer).
- Ein degressives Arbeitslosengeld darf keinesfalls weiter die bereits prekäre Situation von Langzeitbeschäftigunglosen verschlechtern. Eine Arbeitsmarktreform muss darauf abzielen, die Lebenslage dieser mittlerweile knapp 40% aller Arbeitslosen in Österreich zu verbessern – durch existenzsichernde Erwerbsarbeit und ein armutsfestes Arbeitslosengeld.
- „Langzeitbeschäftigungslos“ sind nach Definition des AMS jene Menschen, die seit mehr als 365 Tagen beim AMS gemeldet sind – egal ob arbeitslos, lehrstellensuchend oder in Schulung. Unterbrechungen von weniger als 62 Tagen, also auch kurzfristige Dienstverhältnisse, beenden diesen Status nicht. Langzeitbeschäftigungslose Arbeitslose sind also Menschen, für die der (Wieder)Einstieg in den Arbeitsmarkt besonders schwer ist.
Höhe OECD Überblick zur Höhe der Arbeitslosenleistung im internationalen Vergleich: https://data.oecd.org/chart/6PXP
Aktuelle Zahlen zu Arbeitslosigkeit: https://arbeitplus.at/statistiken/entwicklung-arbeitslosigkeit-aktuelles-monat/ - Es darf keine Kürzungen bei länger dauernder Arbeitslosigkeit, insbesondere bei der Notstandshilfe, geben. Ein Großteil der derzeit Langzeitbeschäftigungslosen bezieht Notstandshilfe. Da diese prozentuell an die Arbeitslosenunterstützung gekoppelt ist, gilt es daher zu vermeiden, dass Menschen, die über ein Jahr beschäftigungslos sind, weniger als die derzeit geltende 55 % Nettoersatzrate, bzw. davon 92-95 % Notstandshilfe erhalten. Gerade Menschen in lang dauernder Arbeitslosigkeit brauchen eine ausreichende Absicherung, denn durch ein erzwungenes Leben in Armut werden keine neuen (existenzsichernden) Jobs geschaffen, sondern Menschen in einen Niedriglohnsektor gedrängt.
- Die Notstandshilfe muss dringend als Netz der sozialen Absicherung nach dem Auslaufen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld als dauerhaft möglicher Bezug erhalten bleiben. Wie das Beispiel Hartz IV zeigt, droht bei Abschaffung eine Armutsfalle wie in Deutschland. Gleichzeitig darf es in der Bemessung der Notstandshilfe zu keiner Verschlechterung zur jetzigen Situation kommen. Das bedeutet, dass eine mögliche Degression beim ALG bei der Notstandshilfe nicht fortgeführt werden darf. Der Berechnungsmodus mit dem ALG-Grundbetrag als Basis für die Berechnung der Notstandshilfe ist aufrecht zu erhalten. Die Höhe der Notstandshilfe soll nicht von der letzten Degressionsstufe berechnet werden.
Ein österreichisches Spezifikum, das insbesondere für Langzeitbeschäftigungslose, Menschen mit Behinderungen und Ältere ein wesentliches Auffangnetz ist, ist die Notstandshilfe. Die Notstandshilfe ist keine Sozialleistung, sondern eine Versicherungsleistung. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Dementsprechend gibt es einen Rechtsanspruch, Bezugszeiten werden auf die Pension angerechnet, die Höhe orientiert sich am letzten Einkommen und Partner:inneneinkommen werden nicht angerechnet. All das sind vor allem Vorteile gegenüber der Sozialhilfe. Die Gewährung der Notstandshilfe setzt voraus, dass zuvor in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt wurde. Damit wurden „vermögenswerte Rechte“ erworben. Weil die Menschen darauf vertraut haben, dass ihnen die Leistung zusteht, sind massive Eingriffe in bzw. die gänzliche Abschaffung der Notstandshilfe im Rahmen einer ALG Reform verfassungsrechtlich problematisch bzw. im Fall der gänzlichen Abschaffung vermutlich verfassungswidrig.
Zuverdienst
„Für uns bei der Straßenzeitung Kupfermuckn und besonders beim Trödlerladen wäre das eine Katastrophe“, schreiben Betroffene aus Linz. Im neuen Sozialhilfegesetz wurde die Zuverdienstmöglichkeit bereits abgeschafft, mit katastrophalen Folgen. Oder: In der Schuldenberatung sind 40 Prozent der Ratsuchenden arbeitslos. Ohne Zuverdienst können viele ihre Schulden nicht regeln, und ohne Schuldenregelung kein Job wegen Lohnpfändung. Und: Gerade Menschen, die wegen schweren psychischen Erkrankungen lange arbeitslos sind oder gar keinen Job finden können, sind in vielen Fällen von geringen Nebeneinkünften abhängig – das hilft auch der Tagesstrukturierung und Selbstwirksamkeit. Sozialpolitisch ist die Sache recht eindeutig. Aber auch arbeitsmarktpolitisch muss man genau hinsehen.
Die jetzt oft bemühte Wifo-Studie dazu, zeigt, dass bei Langzeitarbeitslosen der Zuverdienst die Arbeitslosigkeit verkürzt. Der Zuverdienst ist bei dieser Gruppe auch arbeitsmarktpolitisch sinnvoll. Zum Zeitpunkt der Studie im Jahr 2010 gab es in Österreich nur rund 45.000 langzeitbeschäftigungslose Arbeitslose, aktuell sind es dreimal so viel. Der Effekt könnte also jetzt noch für viel mehr Menschen relevant sein. Ähnliche Evidenz weisen aktuelle Studien in Deutschland und Frankreich nach. Das Problem bleibt, dass diese Jobs keine guten, auch sozialversicherungsrechtlich abgesicherten Arbeitsplätze sind. Einige AMS in Österreich versuchen deshalb gleichzeitig Betriebe zu bewegen, daraus regulären Anstellungen zu machen. Das könnte noch verstärkt werden.
Nachdem das Arbeitslosengeld in Österreich im europäischen Vergleich relativ niedrig und nicht armutsfest ist, haben rund 54.000 Menschen und somit jede/r achte Arbeitslose im Frühjahr 2021 bis zur Geringfügigkeitsgrenze zu ihrem Arbeitslosengeld oder zur Notstandshilfe dazuverdient. Viele Betroffenen bewahrt dieser Zuverdienst vor dem Abrutschen in manifeste Armut. Besonders bei Langzeitbeschäftigungslosen wirkt eine geringfügige Beschäftigung und der damit verbundene Zuverdienst unterstützend, und zwar finanziell und was ihre Anbindung an den Arbeitsmarkt anbelangt. Insofern ist die Möglichkeit des Zuverdienstes gerade für Langzeitbeschäftigungslose arbeitsmarktpolitisch sinnvoll und sozialpolitisch notwendig.
Die langjährige Erfahrung der Sozialen Unternehmen zeigt, dass für Langzeitbeschäftigungslose eine geringfügige Beschäftigung eine sinnvolle Brücke in den Arbeitsmarkt sein kann. Insbesondere für vulnerable Gruppen am Arbeitsmarkt und langzeitarbeitslose Menschen ist dieser „Fuß in die Arbeitswelt“ ungemein wichtig. Sie behalten oder bekommen dadurch eine Tagesstruktur, wichtige Kontakte, erlernen neue Fähigkeiten und können stundenweise oder geringfügig arbeiten und so wieder an eine längerdauernde Beschäftigung herangeführt werden. Vor allem für Menschen mit besonderen psychosozialen Problemlagen ist die „Brücke“ geringfügiger Zuverdienst unerlässlich, da diese Beschäftigungsmöglichkeit oft der erste wichtige Schritt zu einer erfolgreichen (Re-)Integration ist.
Im Allgemeinen gilt, dass Menschen, die bereits sehr lange arbeitslos sind und gesundheitliche Schwierigkeiten haben, der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt besonders schwerfällt. Unsere Erfahrungen bestätigen, dass stufenweise Integrationspfade selbst sehr arbeitsmarktfernen Menschen den schrittweisen Wiedereinstieg ins Erwerbsleben ermöglichen. Solche Stufenmodelle reichen von einer stundenweisen Beschäftigung bis zu einem Transitarbeitsplatz in einem Sozialen Unternehmen. Sie erlauben den Menschen durch Aufgaben, die an ihre Fähigkeiten und ihr Tempo angepasst sind, Erfolgserlebnisse, Selbstvertrauen und Zuversicht zu gewinnen und damit neue Perspektiven zu erschließen.
Es braucht also einen gesamtheitlichen Blick auf das ambivalente Thema. Der Zuverdienst kann entweder Türöffner sein oder aber in eine Sackgasse führen. Grundsätzlich stellt die Geringfügigkeit eine sozial ungünstige und ökonomisch prekäre Situation für Beschäftigte dar. Für Langzeitarbeitslose kann sie jedoch förderlich sein, und für Menschen mit besonderen psychosozialen Problemlagen ist stundenweise oder geringfügige Beschäftigung ein seit Langem erprobter erster Schritt zu einer erfolgreichen (Re-)Integration – und sollte keinesfalls abgeschafft werden.
Gleichzeitig ist evident, dass vor allem Niedriglohnbranchen ungemein von den oftmals prekären geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen profitieren, auf die arbeitsuchende Menschen - häufig vormals Teilzeit-beschäftigte Frauen - zur Aufstockung ihres geringen Arbeitslosengeldes angewiesen sind.
Darüber hinaus gibt es Branchen, die eine geringfügige Beschäftigung von MitarbeiterInnen systematisch missbräuchlich einsetzen, um über die Umgehung arbeits- und sozialrechtlicher Vorschriften (Personal-)kosten zu sparen. Dabei haben die betroffenen MitarbeiterInnen meist de facto selbst keine Wahl, ob sie geringfügig beschäftigt oder ein voll sozialversicherungspflichtiges Dienstverhältnis eingehen möchten. Derlei Praktiken sind seit Jahren bekannt und können wohl nur über systematische Kontrollen und Aufklärung der Konsequenzen reduziert werden.
Zur Langzeitbeschäftigungslosigkeit das arbeit plus Themenpapier: