Regierung nutzt Finanzierungsproblem für unbelegte Sozialschmarotzer-Debatte
Armutskonferenz vergibt Zitrone an die Bundesregierung für deren Absicht, die Gegenfinanzierung der Steuerreform nicht über Vermögenssteuern zu leisten sondern mit Einsparungen aus angeblichem Missbrauch in der Mindestsicherung Mittel zu lukrieren.
Dafür gibt’s eine Zitrone!
"Sonderzitrone" für die Bundesregierung, für die Unterstellung, der Missbrauch in der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sei so groß, dass mit seiner Bekämpfung bedeutsame Beiträge für die Gegenfinanzierung der Steuerreform lukriert werden könnten.
„Die aktuelle Zitrone geht an die Regierung“, führt die Armutskonferenz ihre Serie fort, in der sie auf Missstände in der Gesetzeslage und Vollzugspraxis der Mindestsicherung hinweist. Aus aktuellem Anlass hat sie sich entschlossen, eine „Sonderzitrone“ an die Bundesregierung zu vergeben. Und zwar für die Unterstellung im Ministerrats-Vortrag zur Steuerreform, der Missbrauch in der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sei so groß, dass mit seiner Bekämpfung bedeutsame Beiträge für die Gegenfinanzierung der Steuerreform lukriert werden könnten.
Wir liefern Daten und Fakten:
1. Zugangsbedingungen als Einladung zum Missbrauch? Das Erschleichen von Mindestsicherungsleistungen ist aufgrund von umfangreichen Offenlegungspflichten und Amtshilfe-Abkommen kaum möglich. Weshalb auch die BMS-Behörden von Missbrauch „im Promillebereich“ ausgehen.
2. Arbeitsfähig, aber nicht arbeitswillig? Es wird unterstellt, dass es bei der Bereitschaft, einen Arbeitsplatz anzunehmen, massive Probleme gäbe. Die verfügbaren Daten unterstützen diese Aussage nicht, im Gegenteil. Zum einen ist die Gruppe, um die es geht, klein: Nur ca. ein Viertel der BMS-BezieherInnen muss sich beim AMS als arbeitssuchend vormerken lassen. Denn nur eine Minderheit der BMS-BezieherInnen befindet sich im erwerbsfähigen Alter und ist gleichzeitig auch erwerbsfähig; andere können den Arbeitsmarkt aus anerkannten Gründen nicht zur Verfügung stehen. Zweitens gilt: nicht alle, die als erwerbsfähig gelten, haben reale Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
3. Missbrauchs-Hochburg Wien? Mehr als die Hälfte der BMS-BezieherInnen Österreichs lebt in Wien. Daraus wird der voreilige Schluss gezogen, in der Bundeshauptstadt liege massenhafter Leistungsbetrug vor. Belege für diese Aussage werden keine präsentiert. Wir liefern andere – und plausiblere - Erklärungen: Armutsfestere Leistungen als anderswo, der Verzicht auf problematische Vollzugspraktiken und strukturelle Gründe im Großstadt-Kontext. Wir veröffentlichen in diesem Zusammenhang Zahlen, die erstmals zeigen, dass auch in den Bundesländern der Bezug von BMS ein überwiegend städtisches Phänomen ist.
Mehr als doppelt so starker Mindestsicherungsbezug in Städten wie St.Pölten, Innsbruck oder Linz
Dass die BezieherInnen-Zahlen in Wien so viel höher sind als in den anderen Bundesländern, kann nach Auffassung der Kritiker nur einen Grund haben: laxe Missbrauchs-Kontrollen. Eine Daten-Auswertung zeigt allerdings, dass für Wien im Großen zu trifft, was auch in den anderen Bundesländern gilt.
Mindestsicherung wird in Städten österreichweit grundsätzlich häufiger in Anspruch genommen als in ländlichen Regionen. Es ist uns gelungen, für 5 Landeshauptstädte aktuelle, aus den Sozial-Ressorts der Länder stammende Daten zu recherchieren (siehe Tabellen - PDF). Der Anteil, den BMS-BezieherInnen der jeweiligen Landeshauptstadt an allen BMS-BezieherInnen des jeweiligen Bundeslandes ausmachen, liegt um das 2,1-fache (Linz) bis 2,5-fache (St. Pölten, Innsbruck) über dem Anteil der in der jeweiligen Landeshauptstadt wohnenden Bevölkerung. So leben beispielsweise in St. Pölten nur 3,2% der niederösterreichischen Bevölkerung, aber 7,9% der niederösterreichischen Mindestsicherungs-BezieherInnen. Je mehr Menschen des jeweiligen Bundeslandes in der Landeshauptstadt leben, desto höher ist folglich auch der Anteil an den EmpfängerInnen Bedarfsorientierter Mindestsicherung: Salzburg ist das Bundesland mit dem größten, in der Landeshauptstadt lebenden Bevölkerungsanteil (27,5%), und gleichzeitig jenes mit dem höchsten, in der Landeshauptstadt lebenden Anteil von BMS-BezieherInnen (60,1%).
Dass es in den Städten mehr BezieherInnen von Bedarfsorientierter Mindestsicherung gibt als am Land, hat unter anderem damit zu tun, dass es in den Städten weniger Gründe für Nicht-Inanspruchnahme gibt:
1. Anonymität & Scham: Anträge auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung müssen nicht notwendigerweise am Gemeindeamt gestellt werden. Die AntragstellerInnen müssen sich aber bewusst sein, dass das Gemeindeamt als Meldebehörde jedenfalls von einem Antrag erfahren wird. In der Stadt lässt sich das Angewiesensein auf Mindestsicherung besser vor NachbarInnen und Bekannten verheimlichen. Die Angst, als Sozialschmarotzer abgestempelt und gemieden zu werden, ist folglich am Land ein wesentlich stärkerer Faktor für Nicht-Inanspruchnahme als in der Stadt.
2. Zugang zu Informations- und Beratungsangeboten: Viele Anspruchsberechtigte wissen gar nichts von ihren Ansprüchen oder haben falsche Informationen hinsichtlich ihrer Rechte und Pflichten. Im städtischen Gebiet ist die Versorgung mit Sozialberatungseinrichtungen wie auch ihre Erreichbarkeit wesentlich besser als am Land. Damit steigt die Chance, dass Personen in einer Notlage über ihre Rechte aufgeklärt und bei einer Antragstellung unterstützt werden.
3. Pfandrecht ans Sozialamt: Ein wichtiger Punkt für den „Verzicht“ auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung sind die strengen Vermögensverwertungsbestimmungen: wer ein Eigenheim besitzt, muss dieses nach 6 Monaten BMS-Bezug innerhalb von 2 Jahren im Grundbuch sicherstellen lassen und damit dem Sozialamt ein Pfandrecht einräumen. Viele Eigenheim-BesitzerInnen „verzichten“ unter diesen Umständen lieber auf BMS. Einkommensarme Personen leben in der Stadt wesentlich häufiger zur Miete als am Land, wo das Wohnen im Eigenheim auch für viele BMS-Anspruchsberechtigte die Regel ist. Die Angst, dieses Eigenheim zu verlieren oder nur belastet weitervererben zu können, hält deshalb am Land wesentlich mehr Menschen von einer Antragstellung ab als in der Stadt, so die Armutskonferenz abschließend.
Mehr: Sonderzitrone Missbrauchs-Vorwurf (pdf)