Situation Armutsbetroffener verschärft sich
Armutsstatistik erfasst Realitäten unzureichend.
(Graz, 25.11.07) Dass sich die Situation Armutsbetroffener zunehmend verschärft, machten VertreterInnen von Erwerbsarbeitsloseninitiativen, Straßenzeitungen, AlleinerzieherInnen-Plattformen, Selbsthilfegruppen von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen und MigrantInnenorganisationen auf einer ersten österreichischen Anti-Armuts-Demonstration von Betroffen in Graz öffentlich deutlich.
Alleinerziehend, ohne Erwerbsarbeit, mit Migrationshintergrund, AsylwerberIn, wohnungslos, psychisch krank oder behindert. Auf wen eines – oder mehrere - dieser Attribute zutrifft, die oder der zählt zu den in Österreich am stärksten von Armut betroffenen Gruppen.
Dass sich die Situation Armutsbetroffener zunehmend verschärft, machten VertreterInnen von Erwerbsarbeitsloseninitiativen, Straßenzeitungen, AlleinerzieherInnen-Plattformen, Selbsthilfegruppen von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen und MigrantInnenorganisationen) auf einer ersten österreichischen Anti-Armuts-Demonstration von Betroffenen am Wochenende in Graz öffentlich deutlich.
Die Kundgebung fand im Rahmen des von der Armutskonferenz organisierten dritten österreichischen Treffens von Menschen mit Armutserfahrungen (23.- 25.11.07) statt, zu dem gut 50 TeilnehmerInnen aus ganz Österreich gekommen waren, um aktuelle Entwicklungen zu analysieren und Strategien zur Umsetzung effektiverer Armutbekämpfungsmaßnahmen aus Sicht der Betroffenen zu entwickeln.
Skepsis gegenüber Grundsicherung, Ablehnung AlVG-Novelle
Der geplanten Grundsicherung stehen Betroffene mit großer Skepsis entgegen. "Wir erwarten keine Verbesserungen, vor allem wenn Miet- und andere –beihilfen gestrichen werden, könnte es für viele sogar zu Verschlechterungen kommen", sind sich die Betroffenen einig. Auch die aktuell diskutierte AlVG Novelle lässt beträchtliche zusätzliche Einschränkungen erwarten. Während bei bloßem Verdacht auf Arbeitsunwilligkeit der Druck auf Arbeitssuchende wachsen und es noch schneller zur Sperre des Arbeitlosengelds kommen wird, wird Menschen, die aufgrund von z.B. Krankheit oder Kinderbetreuungspflichten nur eingeschränkt erwerbsfähig sind, eine angemessen Beteiligung am Arbeitsmarkt durch u.a. fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten und mangelnde Förderung und Ausgestaltung eines zweiten Arbeitsmarkts weiterhin unmöglich gemacht.
Armutsstatistik erfasst Realitäten unzureichend
Steigende Lebenshaltungskosten, vor allem die Teuerungen von Grundnahrungsmitteln und Heizkosten schlagen sich stark auf die schmalen Budgets von Menschen, die in Armut leben nieder. Armutsstatistiken, die vornehmlich Einkommenslagen erheben, erfassen die Realitäten von Betroffenen nur unzureichend. Auch wer knapp über der statistischen Armutsgrenze lebt*, hat oft nicht genug Geld zum Heizen, für den Schikurs der Kinder oder einen dringend notwendigen Fortbildungskurs. Für Armutsbetroffene, die mit einem Einkommen weit unter der Armutsgrenze auskommen müssen, sind oft bereits Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel und Ausgaben für Grundnahrungsmittel kaum mehr leistbar.
Armut kann jede/n treffen: Soziale Sicherungssysteme sind löchrig
Biographische Erfahrungen von Armutsbetroffenen bestätigen immer wieder: Armut kann jede/n treffen, nach Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung oder Krankheit geht der Abstieg in die Armut schneller als je gedacht.
Sozialpolitische Sicherungssysteme sind nur unzureichend auf die Wechselfälle des Lebens ausgerichtet und weisen grobe Lücken auf. Wer zu krank für die Arbeit ist, gilt oft als zu gesund für die Pension und fällt durch ein Loch im sozialen Sicherungsnetz. Viele Alleinerzieherinnen, deren Ex-Partner sich der Zahlungsverpflichtung für ihre Kinder entziehen, bekommen auch vom Staat keine Unterstützung, SozialhilfebezieherInnen besitzen noch stets keine e-card und sind auch im Hinblick auf die ihnen zustehenden Behandlungen Patientinnen letzter Klasse. Wer seine Leistungsfähigkeit verliert und beispielsweise aufgrund einer Depression einen Termin beim AMS versäumt, verliert schnell auch die Krankenversicherung. Ein Anspruch auf Arbeitslosigkeit verfällt trotz langjähriger Berufstätigkeit, weil aufgrund persönlicher Krisen 15 Monate lang mit der Beantragung gewartet wurde. Kinder von AsylwerberInnen wird der Besuch höherer Schulen durch fehlendes Geld für Bus oder Straßenbahn unmöglich, Personen ohne Bankkonto müssen hohe Zahlscheingebühren zahlen und können günstige Telefon- und Internettarife nicht in Anspruch nehmen. In ganz Wien gibt es derzeit keinen einzigen Zahnarzt, der bereit ist Obdachlose zu behandeln.
Bessere Maßnahmen durch stärkere Beteiligung Betroffener
Bei der Suche nach effektivern Maßnahmen der Armutsbekämpfung, wie z.B. die aktuell tätige Arbeitsgruppe zur Reform der Invaliditätspension, werden Betroffene normalerweise weder gehört noch eingebunden.
Neben einem existenzsichernden Mindesteinkommen, besserem Zugang zu qualitätvollen sozialen Dienstleistungen und Gütern und einer Arbeitsmarktpolitik, die adäquate Löhne und berufliche Perspektiven sichert, fordern die Betroffenen deshalb mehr Mitbestimmung und Mitsprachemöglichkeiten.
"Sogar von Seiten der EU-Kommission wurde bereits erkannt, dass geeignete Maßnahmen zur Armutsbekämpfung nur unter Partizipation Betroffener entwickelt werden können", erklärt eine Teilnehmerin. "Wir fordern mehr Respekt für unsere Situation und unsere Expertise, mehr Ressourcen zur Selbstorganisation und verstärkte Möglichkeiten der Mitbestimmung."
Ihre Anliegen und Forderungen werden die Betroffenen per Brief auch direkt an Sozialminister Buchinger übermitteln, der die ursprüngliche versprochene persönliche Teilnahme am Treffen in Graz aufgrund anderer Termine absagen musste.
* Die statistische Armutsgrenze liegt bei 60% des mittleren Einkommens und beträgt derzeit 1.900 Euro für eine vierköpfige Familie (900 Euro für einen Ein-Personen-Haushalt)