Bildung am Abend verboten? SozialrechtsNetz erkämpft Anspruch auf Sozialhilfe.
VwGH entscheidet, dass der Besuch einer Abendschule das Sozialamt nicht berechtigt, die Leistungen zu streichen.
In Niederösterreich wurde die Sozialhilfe einer Frau mit der Begründung eingestellt, dass diese eine Abendschule besuche und daher nicht arbeitswillig sei. Ihre Beschwerde vor Gericht wurde abgewiesen. Das SozialrechtsNetz übernahm den Fall, um gegen die Entscheidung vorzugehen und das Recht der Betroffenen durchzusetzen. Schließlich entschied der Verwaltungsgerichtshof: Die Behörde hatte falsch gehandelt und auch das erstinstanzliche Urteil des Landesverwaltungsgerichts war unrichtig. Die Sozialhilfe hätte nicht eingestellt werden dürfen.
Ausgangslage: Ist der Besuch einer Abendschule Arbeitsverweigerung?
Wie weist man als Sozialhilfeempfänger*in nach, dass man zum Einsatz seiner Arbeitskraft bereit ist? Geregelt ist dies in den Sozialhilfe-Ausführungsgesetzen der Länder, in Niederösterreich zum Beispiel, in § 9 Abs 5 und 6 des NÖ SAG. Dort steht: Bereit zum Einsatz der Arbeitskraft ist, wer bereit ist, eine durch das AMS vermittelte zumutbare Beschäftigung in einem Arbeitsverhältnis als Dienstnehmer anzunehmen. Frau Emily Huber (Name von der Redaktion geändert) war beim AMS Vollzeit arbeitssuchend gemeldet, sie war darüber hinaus aktiv auf Arbeitssuche und schrieb Bewerbungen – und beschloss die Abendschule zu besuchen.
Das macht auch Sinn, denn Bildung hilft gegen Arbeitslosigkeit und Armut. Man müsste wohl lange suchen, um jemanden zu finden, der auf die Idee käme, dieser einhelligen wissenschaftlichen Meinung zu widersprechen. Es sei denn, man ist Sozialhilfeempfängerin und wohnt in St. Pölten in Niederösterreich. Denn zu dem entgegengesetzten Schluss kam das dort zuständige Sozialamt, als es im April 2021 per Bescheid die Zahlung der Sozialhilfe an Frau Huber einstellte. Es begründete dies damit, dass der Besuch der Abendschule beweise, dass das vorrangige Ziel Frau Hubers nicht die Aufnahme einer Beschäftigung, sondern der Abschluss der Ausbildung gewesen sei und sie deshalb die Aufnahme einer Beschäftigung entgegen ihrer Verpflichtungen verweigere.
Frau Huber erhob gegen den Bescheid Beschwerde: Sie stand ja dem AMS ohne Unterbrechung zur Vermittlung einer Vollzeitbeschäftigung zur Verfügung, bezog Notstandshilfe und war darüber hinaus aus Eigeninitiative aktiv auf Suche nach einer Beschäftigung. Da der Unterricht an der Abendschule montags bis donnerstags von 17:30 Uhr bis 21:00 Uhr stattfand, stand dieser der Aufnahme einer Beschäftigung auch zeitlich nicht im Weg.
Abweisung der Beschwerde durch das Landesverwaltungsgericht
Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wies jedoch ihre Beschwerde (mit Erkenntnis vom 22.11.2021) als unbegründet ab. Es teilte die Ansicht des Sozialamts, und unterstellte in seiner Erkenntnis pauschal, dass Frau Huber durch ihren Besuch der Abendschule nicht in der Lage gewesen wäre, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Nach Ansicht des Gerichts begründete die Absolvierung einer Schulausbildung gem § 12 Abs 3 lit f Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG) die unwiderlegbare Vermutung, dass die betreffende Person nicht an einer Beschäftigung, sondern am Abschluss der Ausbildung interessiert sei. Damit läge die Bereitschaft zum Einsatz der Arbeitskraft und somit auch eine Arbeitslosigkeit nicht vor. Dabei hielt es das Gericht offenbar auch für unnötig, auf die Umstände des Einzelfalls einzugehen, und verwies auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach es im Rahmen der gesetzlichen Vermutung nicht darauf ankomme, ob und in welchem Ausmaß eine Anwesenheitspflicht besteht, noch darauf, ob die Ausbildung berufsbegleitend angeboten werde.
SozialrechtsNetz unterstützte Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof
Das SozialrechtsNetz übernahm den Fall und unterstützte Frau Huber in der Klagsführung, um den Fall vor den VwGH zu bringen. Denn nach Ansicht des SozialrechtsNetz waren die Sozialleistungen zu Unrecht verwehrt worden und auch die Abweisung ihrer Beschwerde durch Landesverwaltungsgericht war nicht nachvollziehbar: Es hätte sehr wohl die Bereitschaft zum Einsatz der Arbeitskraft von Frau Huber selbst beurteilen müssen. Der Verweis auf das AlVG erschien unrichtig. Weder reichte dieser aus, noch war diese Rechtslage überhaupt anwendbar. Zur Beurteilung der Bereitschaft zum Einsatz der Arbeitskraft von Sozialhilfeempfängerinnen wäre es natürlich naheliegend gewesen, statt dem Arbeitslosenversicherungsgesetz das NÖ Sozialhilfe-Ausführungsgesetz heranzuziehen.
VwGH: Bereitschaft zum Einsatz der Arbeitskraft ist nach den Kriterien des § 9 Abs 5 und 6 NÖ SAG im Einzelfall zu prüfen
Entsprechend bestätigte der VwGH mit Erkenntnis Ra 2021/10/0189-10 vom 07.12.2023, dass die Bereitschaft zum Einsatz der Arbeitskraft nicht nach den Bestimmungen des AlVG (und der dazu ergangenen Judikatur) zu prüfen ist, sondern nach den Kriterien des § 9 Abs 5 und 6 NÖ SAG. Diese Bestimmungen enthalten keinen Verweis auf die arbeitslosenversicherungsrechtlichen Bestimmungen. Die Behörde und das LVwG NÖ hätten daher die Umstände des Einzelfalls prüfen müssen und Frau Hubers aktive Arbeitssuche berücksichtigen müssen. Somit hob der VwGH die Entscheidung des Landesgerichts auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung zurück.
Unterstützt durch das SozialrechtsNetz konnte Frau Huber einen ergänzenden Schriftsatz einreichen, mit dem sie erneut aufzeigte, dass sie nicht nur beim AMS arbeitssuchend gemeldet war, sondern sich darüber hinaus aus Eigeninitiative für mehrere Jobs beworben und sich um die Aufnahme einer Beschäftigung bemüht hatte. Das LVwG NÖ hob den Bescheid, mit dem ihre Leistung eingestellt wurde, letztendlich mit Erkenntnis vom 11.04.2024 auf.