Sozialrechtsnetz erkämpft Mindestsicherung für Betroffene von häuslicher Gewalt
(8.3.2022) In Tirol wurde einer Frau die Mindestsicherung gekürzt, weil sie aus Angst nicht rechtlich gegen ihren gewalttätigen Ex-Partner vorgehen wollte, um bei diesem den Unterhalt für ihre Tochter einzuklagen. Aufgrund der damit verbunden psychischen Belastung und physischen Gefährdung ist diese Auflage besonders perfide. Dagegen wurde erfolgreich eine Revision eingebracht.
Ausgangssituation Tirol
Frau Kriegler flüchtet im August 2018 mit ihrer Tochter aus England nach Österreich, da ihr Partner mehrfach ihr gegenüber gewalttätig wurde und sie bedrohte. In Österreich wohnt Frau Kriegler bei ihren Eltern in Tirol und nimmt die Betreuung von Vereinen, die sich professionell mit Gewaltschutz beschäftigen, in Anspruch.
Da Frau Kriegler auf Grund ihrer Flucht armutsgefährdet ist, stellt sie im Jänner 2020 einen Verlängerungsantrag auf Mindestsicherung. Die Behörde hatte sie bereits 2019 mehrfach aufgefordert, den Unterhalt für ihre Tochter gegenüber dem Kindsvater, welcher in England lebt geltend zu machen. Frau Kriegler hatte gegenüber der Behörde wiederholt darauf hingewiesen, dass sie aufgrund der langen Gewaltausübung durch ihren ehemaligen Lebensgefährten eine weitere Bedrohung befürchte, wenn sie gerichtliche Schritte gegen ihn einleite. Darüber hinaus sei der ehemalige Lebensgefährte nicht als Vater festgestellt, weshalb zusätzlich noch zuerst die Vaterschaft festgestellt werden müsste.
Die zuständige Behörde kürzt im Jänner 2020 Frau Kriegler gem § 19 Abs 1 lit c Tiroler Mindestsicherungsgesetz (TMSG) die Mindestsicherung um 44 % (€219,16 monatlich), da sie ihre Ansprüche gegenüber dem ehemaligen Lebensgefährten nicht verfolge.
Frau Kriegler verfasst eine Beschwerde gegen diese Entscheidung an das Landesverwaltungsgericht Tirol und beantragt, dass in ihrem Fall eine mündliche Verhandlung abgehalten wird. Das Landesverwaltungsgericht Tirol entscheidet, ohne eine mündliche Verhandlung abgehalten zu haben, abermals auf eine Kürzung der Mindestsicherung, da die Verfolgung von Unterhaltsansprüchen Frau Kriegler zumutbar sei.
SozialrechtsNetz Einschätzung
Der Fall von Frau Kriegler führt in vielerlei Hinsicht die massiven Probleme mit dem System der Armutsvermeidung in Österreich vor Augen. Die soziale Absicherung ist in Österreich als subsidiäres System konzipiert, weshalb der Staat regelmäßig von Armutsbetroffenen fordert, ihre Ansprüche gegenüber Verwandten oder anderen Dritten geltend zu machen. Dabei kommt es insbesondere mit der staatlichen Forderung nach Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen immer wieder zu Problemen (Details zu einem anderen Fall hier nachlesen.).
Im vorliegenden Fall ist diese Forderung nach Klage gegen Dritte besonders fragwürdig, da die Behörden wissentlich eine psychische und vermutlich auch physische Gefahr in Kauf nehmen. Dies, obwohl der Tiroler Landtag in den Begleitmaterialien des Mindestsicherungsgesetzes die Gefahr häuslicher Gewalt explizit als einen Grund genannt hat, der eine Unzumutbarkeit der Verfolgung solcher Unterhaltsansprüche begründet. Die sozialbehördliche Praxis steht dazu in krassem Widerspruch. Weder die zuständige Behörde noch das unabhängige Verwaltungsgericht des Landes Tirol akzeptieren die Begründung von Frau Kriegler. Das zuständige Gericht unterlässt es sogar, die Bedenken und Argumente von Frau Kriegler in einer mündlichen Verhandlung zu erörtern. Sie wird in dieser psychischen Belastungssituation völlig alleine gelassen und das Netz der sozialen Absicherung bleibt ihr und ihrem Kind versagt.
Verwaltungsgerichtshof gibt Frau Kriegler recht
Auf Grund dieses unhaltbaren Zustandes entscheidet sich das SozialrechtsNetz in diesem Fall in Zusammenarbeit mit der betreuenden Organisation in Tirol zur Erhebung einer Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Der Verwaltungsgerichtshof gibt der Revision von Frau Kriegler recht (Das gesamte Erkenntnis kann hier nachgelesen werden). Das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes sei rechtswidrig, da das Landesverwaltungsgericht es unterlassen habe, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Darüber hinaus stehe der Anspruch, dessen Geltendmachung das Landesverwaltungsgericht Tirol verlangt, nicht Frau Kriegler selbst sondern ihrer Tochter zu. Der Verwaltungsgerichtshof weist in seiner Begründung auch darauf hin, dass eine Feststellung der Vaterschaft in Österreich dann nicht verlangt werden darf, wenn diese für das Wohl des Kindes nachteilig ist oder die Mutter von ihrem Recht, den Namen des Vaters nicht bekanntzugeben, Gebrauch macht.
Zusammenfassung
Der vorliegende Fall zeigt besonders deutlich, wie Armutsvermeidung durch behördliche Schikanen und damit verbunden unterlassene Prävention von Gewalt konterkariert wird. Er zeigt darüber hinaus, in welche aussichtlose Lage armutsbetroffene Menschen in Österreich gedrängt werden können. Armutsbetroffene Menschen werden von Behörden angehalten, unzumutbare Beweise zu erbringen. Dabei bleibt die Situation der Betroffenen, und oft auch die Situation von Kindern, völlig unberücksichtigt. Diesbezüglich braucht es dringend ein Umdenken, auch was das Recht auf Unterstützung bei Behörden und Gerichten betrifft (Mehr zum Thema Verfahrensbezogene Vorkehrungen gibt es hier).
Die unzumutbare Kürzung der Mindestsicherung trifft Frau Kriegler in ihrer finanziellen, aber auch psychischen Existenz. Glücklicherweise konnte in diesem Fall rechtlich Abhilfe geschaffen werden.
Das SozialrechtsNetz unterstützt Fälle, bei denen Menschen zu Unrecht Sozialleistungen verwehrt werden. Kontaktdaten finden Sie unter:
www.sozialrechtsnetz.at