Soziologe Klaus Dörre auf Armutskonferenz: Prekarität frisst sich vom Rand in die Mitte
Niedriglohnsektor kein Sprungbrett: Nur 12% kommen wieder raus / Verschiebung der „Schwelle der Respektabilität nach unten“
Video-Stream vom Input von Klaus Dörre auf der 10. Armutskonferenz: Die prekäre Vollerwerbsgesellschaft. Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik.
(25.02.2015). "Immer mehr Menschen werden über unwürdige und entwürdigende Arbeit in den Arbeitsmarkt integriert“, analysiert Klaus Dörre, Professor an der Universität Jena, in seinem Referat heute vormittags auf der 10. Armutskonferenz , die in Salzburg mit 400 TeilnehmerInnen aus Wissenschaft, Selbsthilfeinitiativen, sozialen Organisationen, Bildungseinrichtungen und Armutsbetroffenen stattfindet.“. In seinem Vortag warnt der renommierte Soziologe vor dem „Modell Deutschland“ und seinen Konsequenzen für Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Deutschland habe den raschest wachsenden Niedriglohnsektor Europas. „Seit den 1980er Jahren erleben wir einen Fahrstuhleffekt nach unten, der in Deutschland eine prekäre Vollerwerbsgesellschaft hervorgebracht hat.“ Prekarität „frisst sich mittlerweile vom Rand in die Mitte hinein“. Die Mehrzahl der Menschen im Niedriglohnsektor verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung, so Dörre.
In der soziologischen Diskussion bezeichnet Prekarität unsichere, instabile Arbeits-, Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse. Prekär ist eine Beschäftigung dann, wenn sie nicht dauerhaft oberhalb eines gesellschaftlich definierten Minimums Existenz sichernd ist und deshalb in den Dimensionen Arbeitszufriedenheit, soziale Wertschätzung/Anerkennung, Partizipation und längerfristige Lebensplanung dauerhaft diskriminiert. Die Formen sind nach Bildung unterschiedlich und doch gleich: „Der Akademiker im ewigen Projekt, der Arbeiter im Niedriglohnsektor, die Zugewanderte, die im Haushalt putzt“.
„Schnell hinein und umso schwerer wieder heraus“
Einen weiteren Mythos entlarvt Dörre in seinen empirischen Studien: Prekäre Beschäftigung ist „kein Sprungbrett in den sog. ersten Arbeitsmarkt“. Nur 12% steigen in bessere Arbeitsverhältnisse um. „Man fällt schnell hinein und kommt umso schwerer wieder heraus“. Es entstehen vielmehr Drehtüreffekte, „zirkulare Mobilität“ wie Dörre es nennt, vom schlechtem Job zum schlechtem Job.
Hartz IV hat keine neue Arbeit geschaffen. Das Arbeitsvolumen bezahlter Arbeit ist in Deutschland gesunken. Dieser Rückgang ist aber nicht gleich verteilt. Ein sinkendes Arbeitsvolumen wird durch atypische Beschäftigungsverhältnisse auf immer mehr Schultern verbreitert – Teilzeitbeschäftigung, Geringfügigkeit, Leiharbeit. Zehn bis 15 Prozent der im globalen Norden lebenden Menschen werden somit aus dem Umfeld halbwegs gesicherter Erwerbsarbeit ausgeschlossen.
Schwelle der Respektabilität gesenkt / „Le Havre“ Perspektivenwechsel
Dörre weist auf ein zentrales Problem in: „Wer rund um Hartz IV verdient, ist gesellschaftlich nicht mehr respektiert“. Prekarität hat „die Schwelle der Respektabilität verändert“ und „den Druck auf die Leute erhöht“. Hartz IV ist die Verschiebung der Schwelle der Respektabilität nach unten. Die Betroffenen werden gesellschaftlich missachtet.
„Hartz IV ist wie ein Hamsterrad, das Leute unterhalb der Schwelle der Respektabilität hält“. Dörre zitiert aus seinen Befragungen. Die Prekaritäts-Logik „verlangt, jene qualitativen Ansprüche an Arbeit und Leben aufzugeben, die besonderes Engagement motivieren. Das Leitbild von Hartz IV klagt etwas ein, was in der Praxis zertrümmert wird: Eigenverantwortung und Initiative“, so Dörre.
Dörre zitiert am Ende den Film „Le Havre“ des Regisseurs Aki Kaurismäki als ein Gegenbild zur Stigmatisierung und Missachtung der „Unterklasse“. Hier treten Armutsbetroffene und Prekarisierte mit „Eigenschaften auf, die ihnen sonst beständig abgesprochen werden“: solidarisch, findig, klug, strategisch, sorgend und verantwortungsvoll. „Wir brauchen eine andere Perspektive“, so Dörre abschließend.