Desolate Wohnbedingungen, gesundheitliche Einschränkungen und Chancentod für Kinder
Sonderauswertung der Statistik Austria zu Lebensbedingungen von Mindestsicherungs-BezieherInnen
(14.06.2018) Eine aktuelle Studie der Statistik Austria gibt ein realistisches Bild über Lebensbedingungen von Mindestsicherungs-BezieherInnen:
- Sehr hohe Raten bei gesundheitlichen Einschränkungen, chronischer Krankheit und Behinderung.
- Starke negative Effekte bei Wohnsituation
- Massive Auswirkungen auf Gesundheit, Chancen und Teilhabe bei Kindern
1. Zusammensetzung: Wer wirklich in der Mindestsicherung ist
Es gibt eine Reihe von Problemen in der Mindestsicherung, die in der Debatte der letzten Monate vergessen und verschwiegen werden: der Aufwand bei Menschen mit Behinderungen, mangelnde Hilfe bei Gesundheitsproblemen, nicht leistbares Wohnen, Chancentod für Kinder.
Über zwei Drittel sind Pensionisten, Kranke, Menschen mit Behinderung und Erwerbstätige (Aufstocker). 25% Pensionisten, 21% erwerbstätig, 21% im Haushalt (oftmals krank oder beindert), 6% in Ausbildung/ Weiterbildung , 28% arbeitslos (stehen also dem Arbeitsmarkt zur Verfügung).
Abbildung: Über zwei Drittel sind Pensionisten, Kranke, Menschen mit Behinderung und Erwerbstätige (Aufstocker):
2. GESUNDHEIT: chronisch krank und Menschen mit BEHINDERUNG
- 58% chronisch krank (doppelt so viele wie in Haushalten ohne Mindestsicherungs-Bezug)
- 25% stark beeinträchtig durch Behinderung (viermal so hoch wie in der restlichen Bevölkerung)
- Überraschend viele Haushalte mit Pflegegeldbezug, dreimal so hoch (20%)
Was in der Diskussion oft untergeht: In den meisten Bundesländern kommt der Mindestsicherung auch die Rolle zu, ein finanzielles Existenzminimum für Menschen mit so genannter erheblicher Behinderung, wenn sie in Privathaushalten leben, sicherzustellen. Auf deren besondere Bedürfnisse – wie z.B. ein gegenüber anderen Personen erhöhter Regelbedarf – hat die Mindestsicherung derzeit keine Antwort. Menschen mit Beeinträchtigungen haben höhere Lebenshaltungskosten, erhalten aber im Rahmen der BMS in der Regel keine zusätzlichen Hilfestellungen. Für die benötigte Unterstützung bei der Besorgung von Einkäufen, der Reinigung der Wohnung, der persönlichen Unterstützung bei Körperpflege und Ernährung etc. werden Soziale Dienste benötigt, ebenso für die persönliche Begleitung und Unterstützung. Darüberhinausgehende Hilfeleistungen können nicht zugekauft werden: beispielsweise für kleine Reparaturarbeiten im Haushalt, laufende Instandsetzungen in der Wohnung – Alltagserledigungen, für die ein Mensch mit Beeinträchtigungen vielfach externe Unterstützung benötigt.
Abbildung 2: Gesundheit und Behinderung
Abbildung 3: Haushalte mit Pflegegeld
Kürzungen bei Sonderbedarfen (Beispiel Wien): Massiv sind auch die Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen in Wien, falls Zusatzleistungen für das Wohnen nur für AlleinerzieherInnen zulässig wären und es keine Sonderzahlungen mehr geben würde.
Kürzungen bedeuten einen Ansteig von Erschöpfungsdepression um 10%!
In England wurde die Wohnbeihilfe gestrichen. Das führte zu einem 10 prozentigen Anstieg von Erschöpfungsdepressionen bei Personen aus Niedrigeinkommenshaushalten. Die Ergebnisse der Universität Oxford sind gerade veröffentlicht worden. Die weitere Durchlöcherung des unteren sozialen Netzes führt zu einer Abwärtsspirale, die schwierige soziale Situationen verschärft und verlängert. Besonders für die untere Mittelschicht. (Reductions in the United Kingdom's Government Housing Benefit and Symptoms of Depression in Low-Income Households, S. 421-429, Reeves, Clair, McKee and Stuckler)
3. WOHNEN:
Die Wohnkosten für Leute in der Mindestsicherung sind höher als beim Rest der Bevölkerung obwohl sie ärmer sind (9,4 Euro/qm zu 8,4 Euro/qm in Wien; 5,1 Euro/qm zu 3,4 Euro/qm in kleineren Städten und Gemeinden).
MindestsicherungsbezieherInnen leben oft in schlechten und gesundheitsgefährdenden Wohnsituationen: Kälte (Heizen nicht möglich), Lärm, Feuchtigkeit, Überbelag, dunkle Räume
Abbildung 4: Wohnkosten pro Quadratmeter und Region für Ärmere höher
Viele dieser Menschen werden dann gedrängt in billigere, oft feuchte, verschimmelte Wohnungen zu ziehen. In einigen Bundesländern sind die Menschen in Mindestsicherung gezwungen, die restlichen Wohnkosten aus den Leistungen, die eigentlich für den sonstigen Lebensbedarf vorgesehen sind, zu begleichen - oder Mietschulden anzuhäufen. Das bedeutet sie haben noch weniger Geld für Ernährung zur Verfügung - oftmals zulasten der Gesundheit. Und: Delogierungen kommen teurer, sowohl den Betroffenen als auch der Gesellschaft.
Deshalb ist es wichtig, dass in der Mindestsicherung auch zukünftig Bedarfe übernommen werden, die nicht als Kosten des täglichen Lebens gewertet werden können. Zum Beispiel: Geburt eines Kindes, Reparaturen, Kautionen für Wohnungsanmietungen, etc. Auch die Delogierungsprävention ist in einigen Bundesländern als Zusatzleistung geregelt und sollte jedenfalls verbindlich österreichweit als verpflichtendes Leistungsangebot aufgenommen werden.
Abbildung 5: Desolate Wohnbedingungen
Abbildung 6: Kalte Wohnungen Mietrückstände
4. KINDER
Die starke Benachteiligung der Kinder wird deutlich sichbar mit allen negativen Auswirkungen auf Zukunftschancen, Bildung und Gesundheit.
Chancentod: Ausgeschlossen, isoliert, am Rand: Freizeit, Feste, Einladungen, Schulaktivitäten, Bildung sind nicht möglich!
Kinder und Jugendliche, die in Haushalten mit niedrigem Einkommen aufwachsen, haben Nachteile, die in mehreren Bereichen sichtbar werden. Die Gefahr des sozialen Ausschlusses zeigt sich in den geringeren Möglichkeiten Freunde einzuladen, Feste zu feiern und an kostenpflichtigen Schulaktivitäten teilzunehmen.
Abb 7: „Und raus bist Du…“ Teilhabe und Dabeisein
Mindetsicherungs-BezieherInnen mit Kindern leben noch häufiger in schlechten Wohnsituationen. Desolates Wohnen wirkt sich besonders hemmend auf Bildungschancen und die Gesundheit der Kinder aus: Feuchtigkeit, Fäulnis, Überbelag, dunkle Räume.
Abbildung 8: Desolate Wohnbedingungen für Kinder
JA: wachsen lassen, fördern, zutrauen, stärken.
Die wichtigen Faktoren für die Entwicklung von Kindern sind: Gesundheit, Anerkennung, Förderung – keine Beschämung und keine Existenzangst. Wir müssen uns vielmehr darum kümmern, die notwendigen Rahmenbedingungen für ein gesundes Aufwachsen zu gewährleisten.
NEIN: Kinder klein machen, unter Verschluss halten, hinunter drücken, Chancen rauben.
Angesichts der Tatsache, dass die Mindestsätze schon jetzt nur zur Deckung des unmittelbaren Bedarfes reichen, entziehen die Kürzungen Familien mit mehreren Kindern die Existenzgrundlage und bringen damit auch die Zukunftsperspektiven der Kinder ernstlich in Gefahr. Dies steht dem Ziel Armut und sozialer Ausgrenzung nachhaltig entgegenzuwirken und folglich auch eine „Vererbung“ von Armut über Generationen zu vermeiden, diametral entgegen. All das hat Folgen: Die armen Kinder von heute sind die chronisch kranken Erwachsenen von morgen.
Mehr Prävention
Erwerbsarbeit und Versicherungsleistungen können Einkommensarmut zunehmend weniger verhindern. Es genügt also nicht, über die Mindestsicherung allein zu sprechen – die Vermeidung von Einkommensarmut wäre zentrale Aufgabe. Die Mindestsicherung kann nicht der "Staubsauger" für alle strukturellen Probleme sein, die in der Mitte der Gesellschaft angelegt sind: Wenn die Zahl der Bezieher im untersten Netz steigt, stimmt in anderen Bereichen der Gesellschaft etwas nicht: Langzeitarbeitslosigkeit Älterer, Pflegenotstand, prekäre nichtexistenzsichernde Jobs, explodierende Wohnkosten, Burn Out, mangelnde soziale Aufstiegschancen im Bildungssystem. Es ist notwendig, dort etwas zu tun, wo die vorgelagerten Systeme nicht funktionieren. Es kann nicht Ziel sein, möglichst viele Leute in die Mindestsicherung zu drängen, was beispielsweise die Abschaffung der Notstandshilfe bewirken würde. Es braucht Grundrechte statt Almosen, Chancen statt Abstieg, Achtung statt Beschämung, sozialen Ausgleich statt Spaltung.
Dazu müssen die Unterstützungssysteme ausgebaut werden, nicht gekürzt. Wenn nun Hilfen wie die Aktion 20.000 für ältere Arbeitnehmer, die Existenzsicherung in der Mindestsicherung für Kinder wie Familien und die Notstandshilfe gestrichen wird, wenn das Ganztagsschulangebot in Volksschulen gestoppt, die Familienberatungsstellen gekürzt, die Kinderbetreuungsgelder eingefroren werden, dann wird das die Armut erhöhen.
Existenz und Chancen sichern
Ziel muss es doch sein Existenz und Chancen zu sichern, nicht Leute weiter in den Abgrund zu treiben. Die Chancen für 80.000 Kinder weiter zu verschlechtern, Familien in desolate Wohnungen zu treiben und Menschen mit Behinderungen weiter zu belasten, all das sind nicht die Werte, die uns stark gemacht haben.