Schlaflos

Ein Artikel von Martin Schenk

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Die Dachsammer ist eine Spatzenart. Dieser Zugvogel kommt auf seinem saisonalen Flug von Alaska nach Nordmexiko ohne Schlaf aus, bis zu einer Woche. Diese Fähigkeit ermöglicht ihm, während der Nacht zu fliegen und bei Tag Nahrung zu suchen. Die erstaunliche schlaflose Effizienz war Anlass für das Pentagon, Studien in Auftrag zu geben, die herausfinden sollten, wie die Gehirnaktivität der Dachsammer ihr diese langen Wachperioden erlaubt. Mit dem Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen zu übertragen. Genaueres weiß man noch nicht.
Während der Dachsammer seinen schlaflosen Flug in den Wolken absolviert, veröffentlicht der Musiker Andreas Spechtl ein Album mit dem Titel „Sleep“. Der Sänger von Ja Panik entwickelt darauf eine entspannt verstörende Stimmung. Schlafen selbst sei politisch – als letzte Trutzburg, die es mehr denn je zu verteidigen gilt: „Selbst in den Schlaf wird ja allerorten eingegriffen. Ob mit pharmazeutischen Mitteln oder der Smartphone-App, die mir mein bestes Schlafverhalten ausrechnet. Damit der Mensch sich bloß ordentlich ausruht, aber möglichst kurz."

Der Schlaf ist biologisch nützlich, ökonomisch aber irgendwie nutzlos. Eine unprofitable Auszeit, die minimiert werden muss. In der Industrieproduktion des vorigen Jahrhunderts sollte die Maschine rund um die Uhr laufen, in der Dienstleitungsgesellschaft jetzt auch der Mensch. Viele spüren den Druck, dauernd erreichbar zu sein, am besten 24 Stunden am Tag zu Verfügung zu stehen. Wir alle schlafen durchschnittlich immer weniger. Jetzt legen wir uns in den westlichen Gesellschaften sechseinhalb Stunden hin gegenüber acht Stunden noch vor einer Generation und zehn Stunden zu Beginn des Jahrhunderts. Nachtdienste steigen an, die Zahl der Bediensteten im Schichtdienst wuchs in Deutschlands von knapp fünf auf sechs Millionen Menschen an. Mittlerweil arbeiten zwischen drei und vier Millionen ausschließlich nachts. In Spanien sollte der Schlaf zu einem Sparopfer werden. Die Regierung schoss scharf auf die Siesta, die oft zweistündige Mittagspause. „Wenn wir die Arbeitszeit verändern, steigern wir die Produktivität und das Humankapital der Unternehmen“, sagte sie. Die Bevölkerung war renitent. „Wir sind für eine kurze Pause von 15 Minuten nach dem Essen, aber die Leute halten sich einfach nicht daran“, klagten die Herolde der Austeritätspolitik.

Bemerkenswert ist auch, dass die Gesundheitsprävention beständig nach Rauchen, Trinken, Ernährung und Bewegung fragt – aber nicht nach dem Schlaf. Der Schlaf ist biologisch nützlich, aber ökonomisch unter Druck. Er ist eine zentrale Ressource von Gesundheit. Schlafmangel schwächt das Immunsystem, lässt Herz Kreislauferkrankungen steigen, reduziert Merkfähigkeit und Konzentration und befördert Übergewicht. Und im extremsten Fall wird Schlafentzug ja als eine Foltermethode verwendet mit dem Ziel, gefügig zu machen und Widerstände zu brechen.

Der Schlaf stellt sich gegen die ununterbrochene Zeitdauer, gegen ein permanentes Funktionieren. Er ist ein nicht kontrollierbarer Ort vor den Zwängen des Alltags: ein Ort, wo nicht konsumiert und nicht gearbeitet werden kann. Ein Störfaktor mitttlerweile.
Deshalb: Die Dachsammer in den Wolken, Sleep am Plattenteller. Und ich bin auch schon müde.

Veröffentlicht am 25.04.2016