Durch den Supermarkt hindurchschwitzen

Warum Armut kein Eigenschafts-, sondern ein Verhältniswort ist und wie sich der Gang durch den Supermarkt für Betroffene anfühlt.

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»Meine Mutter mag keine Trinkpäckchen. Nicht nur, weil sie umweltschädlich und teuer, sondern auch mit wenig und noch dazu ungesundem Inhalt versehen sind.« Undine Zimmer erzählt von ihrer Kindheit, aufgewachsen in einer Berliner Hartz IV-Familie. »Meine Mutter mag keine Trinkpäckchen, weil Trinkpäckchen arme Mütter demütigen können«. So sagt sie. »Wenn eine befreundete Mutter die kleinen Dinger aus ihrer Tasche holte, um sie ihren Kindern und vielleicht auch mir eins anzubieten, dann bekam meine Mutter noch einmal vorgeführt, dass sie solche Sachen nicht kaufen konnte, die Kinder so viel Spaß machen.«

Es sei wie ein »Hamsterrad im Kopf«, sagt Maria Novotny aus Wien, die mit ihren drei Kindern über zwei Jahre am sozialen Limit leben musste. Den ganzen Tag quälen die Sorgen und das Getöse im Kopf: Miete, Heizkosten, Lebensmittel. Jetzt nur keinen Schulausflug, der was kostet! Und nichts, was kaputt geht! Und ja nicht krank werden! Und bitte nicht noch ein Problem im Betrieb! »Ich lebte von einem Tag auf den andern«, erzählt Maria. »Ich war ziemlich allein mit all den Gedanken, Sorgen und Befürchtungen.«

Für Familien unter der Armutsgrenze sind Wohnen, Energie und Ernährung die drei Hauptposten im Haushaltsbudget, die zusammen bereits über zwei Drittel der Gesamtausgaben ausmachen. Bei Haushalten, die weniger als 900 Euro im Monat zur Verfügung haben, steigt der Anteil von Wohnen und Energie auf 36%, Ernährung macht weitere 20% aus. Je weniger Einkommen, desto höher wird dieser Anteil. In Deutschland ist bei Hartz IV 143 Euro für das Essen vorgesehen, in der Schweiz 371 Franken. In der österreichischen Mindestsicherung liegt Essen in einem Topf mit anderen Ausgaben für das tägliche Leben, nach der Konsumstatistik kommt man auf eine durchschnittliche Summe von 180 Euro im Monat. Die Schuldnerberatungen rechnen sogenannte Referenzbudgets aus, in denen der notwendige Bedarf eines Haushalts ermittelt wird. Für Ernährung sehen diese – mit Ernährungswissenschaftern konzipierten – Haushaltsbudgets 340 Euro/mtl. vor, also deutlich mehr als Hartz IV oder Mindestsicherung zugestehen.

Am Ende des Geldes ist zu viel Monat übrig

In Armutshaushalten werden besonders bei länger andauernden Einkommenseinbußen anteilige Ausgaben für Bildung, Kultur, Erholung zugunsten der Ausgaben für Ernährung und Wohnung/Energie verringert. Zahle ich die Krankenversicherung oder die Miete oder die Hefte zum Schulanfang für die Kinder? Wenn es eng wird, dann gibt es nur einen Posten, der verfügbar ist: Essen. Sparen geht nur dort. »Dann hat es nur mehr Nudeln gegeben«, erzählt Maria. Jetzt geht es ihr und ihren drei Kindern wieder besser, rückblickend sagt sie: »Das Essen macht jetzt wieder Freude, kann wieder etwas Schönes sein statt dem kraftraubenden Stress zwischen Arbeit und Schlafengehen«. Ans Einkaufengehen im Supermarkt denkt sie besonders ungern zurück. »Ich bin da blind durchgegangen, damit ich nur das Billigste und Notwendigste mitnehme.« Einkaufen bedeutete »Zwang und schlechte Stimmung«.

Rückfahrticket in der Tasche

»Arm sein ist, sich durch dieses überfüllige Warenangebot hindurchschwitzen zu müssen, wenn man einfach nur etwas einkaufen gehen will.« Das hat meine Mama immer gesagt, erzählt Undine Zimmer. »Heute redet alles über Hartz IV. Die Menschen glauben dank Supernanny das Leben am Existenzminimum zu kennen – und haben doch keine Ahnung. So wie der Entwicklungshelfer nur zu Gast in der Dritten Welt ist, so haben auch sie das Rückfahrticket immer in der Tasche.«

Das mit dem Rückfahrtsticket ist wohl die zentrale Sache. Es gibt die freiwillig gewählte Armut, wie sie zum Beispiel von Mönchen oder Asketen praktiziert wird. Es gibt aber auch die Armut als Leben, mit dem niemand tauschen will. Freiwillig gewählte Armut braucht einen Status, der den Verzicht zur Entscheidung erhebt. Unfreiwillige Armut sieht anders aus. Armutsbetroffene Kinder haben Eltern mit den schlechtesten Jobs, den geringsten Einkommen, den krank machendsten Tätigkeiten, leben in den kleinsten und feuchtesten Wohnungen, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen, müssen fast überall länger warten – außer beim Tod, der ereilt sie um sieben Jahre früher als einen Angehörigen der höchsten Einkommensschicht. Fasten ist nur dann Fasten, wenn die Möglichkeit etwas zu essen offen steht, sonst ist es Hungern. Der Zustand der Unterernährung mag der gleiche sein, aber die Möglichkeiten, die die Personen haben, unterscheiden sich. Den Unterschied zwischen Hungern und Fasten macht die Freiheit. Undine erinnert sich an die Trinkpäckchen, die sie gerne als Jause in der Schule dabeigehabt hätte: »Es ist ein Unterschied, ob man sich aus verschiedenen Gründen dafür entscheidet, gewisse Dinge nicht zu kaufen, wenn man weiß, man könnte es, oder etwas nicht kauft, weil man es nicht kann.«

Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme

Armut setzt sich stets ins Verhältnis. Sie manifestiert sich in reichen Ländern anders als in Kalkutta. Menschen, die in Österreich von 700 Euro im Monat leben müssen, hilft es wenig, dass sie mit diesem Geld in Kalkutta gut auskommen könnten. Die Miete ist hier zu zahlen, die Heizkosten sind hier zu begleichen und die Kinder gehen hier zur Schule. Deshalb macht es Sinn, Lebensverhältnisse in den konkreten Kontext zu setzen. Armut ist weniger ein Eigenschafts- als ein Verhältniswort.

Es sich nicht leisten können, Freunde zum Essen einzuladen, ist ein Indikator der Armutsmessung der Statistik Austria. Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme. Hier geht es nicht nur ums Geld, nicht nur darum, ob etwas im Kühlschrank ist, sondern vielmehr um die Scham, im Unglück sein Privatestes herzeigen zu wollen. Um den Versuch, die Bedrohung des eigenen Ansehens abzuwehren. Um Selbstachtung. Deshalb ist die Erfahrung gemeinsamen Essens auf Augenhöhe eine so gute Sache.

Ein Kind von Langzeitarbeitslosen zu sein, kann viel bedeuten, erzählt Undine Zimmer. Am prägendsten seien vor allem die fehlenden Erfahrungen – wie ein Familienurlaub ist, wie gut ein Sonntagsessen schmecken kann und wie hilfreich in manchen Situationen spendable Patentanten sein können. »Am heftigsten vermisst man jemanden an seiner Seite, der einem jenes Grundvertrauen einflößt, das andere schon mit der Muttermilch eingesogen haben«, erinnert sich Undine. »Denn auch Chancen brauchen Mut und meist auch etwas Geld.«

Martin Schenk (Diakonie Österreich / Koordinationsteam Armutskonferenz)

Zuerst erschienen in BIORAMA - Magazin für nachhaltigen Lebensstil:
https://www.biorama.eu/durch-den-supermarkt-hindurchschwitzen/

Veröffentlicht am 10.5.2017