Gib mir was, was ich wählen kann - Demokratie ohne Langzeitarbeitslose?
Neue Studie untersucht Motive von langzeitarbeitslosen Nichtwähler*innen in Deutschland
Zahlreiche internationale Studien zeigen, dass die Wahlbeteiligung in den letzten Jahren besonders bei jenen Gruppen zurückgegangen ist, die durch die Gesellschaft benachteiligt werden: also bei Menschen, die in prekären Verhältnissen leben und von Armut oder lange dauernder Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wenn diese Gruppen von ihrem Wahlrecht nicht mehr Gebrauch machen, führt dies dazu, dass auch ihre Interessen nicht mehr ausreichend dargestellt werden und sich die Politik mehr nach den Anliegen der besser verdienenden Gruppen richtet. Für Deutschland wurde diese systematische Schieflage von politischen Maßnahmen zulasten der Armen auch wissenschaftlich nachgewiesen.
Die im August 2017 in Deutschland veröffentliche Studie „Gib mir was, was ich wählen kann. Demokratie ohne Langzeitarbeitslose?“ versucht, mehr über die Motive von langzeitarbeitslosen NichtwählerInnen herauszufinden. Dabei sind langzeitarbeitslose Menschen selbst zu ForscherInnen geworden und haben 66 ausführliche Interviews mit anderen Betroffenen geführt. Diese berichten von ihrem Leben vor der Arbeitslosigkeit, den Krisen und den Erfahrungen mit dem Sozialsystem, welches „nur fordernd und nicht fördernd“ erlebt wird. Das politische System erleben die befragten langzeitarbeitslosen Menschen fast durchgehend als „scheindemokratisch“. Letzten Endes ist es eine konsequente Schlussfolgerung des von langzeitarbeitslosen Menschen „auf Schritt und Tritt zu spürenden Gefühls des Nicht-dazu-Gehörens“ zur Gesellschaft, so der Soziologe Franz Schultheis, der die Studie wissenschaftlich begleitet hat.
Wertschätzung und individuelle Angebote
Die Studie zeigt deutlich: Wer sich nicht von der Politik wahrgenommen fühlt, sieht auch keinen Grund, wählen zu gehen. Die Befragten haben ganz klar gemacht, dass ihr Fernbleiben der Wahl nicht mangelndes politisches Interesse ist, sondern ein bewusstes, politisches Statement und ein Ausdruck des Gefühls, nicht dazuzugehören. Wenn benachteiligte Gruppen nicht mehr wählen gehen, birgt dies die Gefahr, dass sich die Politik immer mehr nach den Anliegen besser verdienender Gruppen richtet. Die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit ist daher ein demokratiepolitisches Muss.
Die wahlkämpfenden Parteien in Österreich sind aufgefordert die Lebensrealitäten von langzeitarbeitslosen Personen nicht länger zu ignorieren, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ihre Forderung nach einem „normalen Leben“ ernst zu nehmen und – am besten in Dialog mit den Betroffenen – Formen dauerhafter, existenzsichernder Beschäftigung zu schaffen. Die in der Studie befragten Personen wünschen sich maßgeschneiderte Qualifizierungsangebote und geförderte Beschäftigung, die ihnen ausreichend Zeit lässt, sich zu entwickeln. Ebenso wichtig ist ihnen aber, dass ihnen Gesellschaft und Politik mit Respekt begegnen, denn sie haben sich ihre Lage nicht ausgesucht.
Vertrauen in das politische System muss wieder hergestellt werden
Die zitierte Studie stammt von der Denkfabrik – Forum für Menschen am Rande, in Kooperation mit dem Evangelischen Fachverband für Arbeit und soziale Integration und der Initiative Pro Arbeit und ist im August 2017 im Herbert von Halem-Verlag erschienen. Selbst ebenfalls (ehemals) langzeitarbeitslose Menschen führten Interviews mit insgesamt 66 Frauen und Männern. Prof. Franz Schultheis von der Universität St. Gallen übernahm die wissenschaftliche Begleitung. Die Interviews zeigen, dass dies nur durch ein konsequentes Eintreten für eine sozial gerechte Gesellschaft sowie durch aufmerksames Zuhören geht. Nur so kann das Vertrauen in das politische System wieder gestärkt werden und wieder eine stärkere Beteiligung benachteiligter Menschen erreicht werden.
Philipp Hammer & Judith Pühringer (arbeit plus)
Beitrag in geänderter Fassung ursprünglich erschienen auf www.arbeitplus.at
Veröffentlicht am 11.09.2017