Kürzungen bei Kindern und Menschen mit Behinderungen

Ziel muss es doch sein, Existenz und Chancen zu sichern, nicht Leute weiter in den Abgrund zu treiben.

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Der Verfassungsgerichtshof hat die Kürzung der Mindestsicherung aufgehoben. Das Gesetz verfehle "seinen eigentlichen Zweck, nämlich die Vermeidung und Bekämpfung von sozialen Notlagen bei hilfsbedürftigen Personen“, sagt der Verfassungsgerichtshof.
Was wir daraus lernen sollten:
1. Verfassung und Menschenrechte als unsere gemeinsamen Werte achten – gerade bei Minderheiten und Armutsbetroffenen nicht schauen „was geht“ und sehenden Auges verfassungsrechtlich und auch menschenrechtlich bedenkliche Gesetze beschließen.
2. Genau hinsehen: „Asyl“ wird gesagt, aber gestrichen wird dann bei allen. Wir haben gerade die aktuellen Zahlen für Niederösterreich bekommen. Nur jeder Siebente vom Deckel Betroffene ist Asylberechtigter. Die Existenzkürzungen betreffen in erster Linie Hiesige und schon längst Dagewesene. Die Deckelungskürzungen richten sich gegen Familien, Pensionisten, Menschen mit gesundheitlichen Problemen oder Behinderungen, Arbeitnehmer und Arbeitssuchende gleichermaßen.

In Österreich sind 80.00 Kinder auf Mindestsicherung angewiesen. Die vorgesehenen Kürzungen treffen alle Paare mit Kindern (das sind 48.942 Kinder) und mehr als die Hälfte der Kinder von Alleinerzieherinnen. Bei den Alleinerziehenden sind durch den Bonus in vielen Bundesländern Alleinerziehende mit 1 oder 2 Kindern bessergestellt. Da jedoch in einigen Bundesländern bisher die tatsächlichen Wohnkosten bis zu einer Höchstgrenze abgedeckt wurden (Tirol, Vorarlberg, Salzburg) oder Mietbeihilfe (Wien) bezahlt wurde, sind in diesen Länder auch sie mit einem oder zwei Kindern von Verschlechterungen betroffen. Alleinerziehende mit 3 oder mehr Kindern werden in den meisten Bundesländern existenzsichernde Leistungen verlieren.

Massiv sind auch die Verschlechterungen für Menschen mit Behinderungen in Wien, falls Zusatzleistungen für das Wohnen nur für AlleinerzieherInnen zulässig wären und es keine Sonderzahlungen mehr geben würde. Was in der Diskussion völlig verschwiegen wird: In den meisten Bundesländern kommt der Mindestsicherung auch die Rolle zu, ein finanzielles Existenzminimum für Menschen mit Behinderung, wenn sie in Privathaushalten leben, sicherzustellen. Auf deren besondere Bedürfnisse hat die Mindestsicherung derzeit keine Antwort. Und es kommt zu großen sozialen Härten, wenn Menschen von Familienangehörigen gepflegt werden.

Darüber wird aber geschwiegen. Auf „die Flüchtlinge“ zeigen die Regierenden, die Bedingungen verschärfen sie aber für alle. Das ist das Geschäft von Trickdieben: Es braucht immer einen, der ablenkt, damit dir der andere die Geldbörse aus der Tasche ziehen kann. Die „Ausländer“ werden ins Spiel gebracht, weil sie sonst die Kürzungen nicht durchsetzen könnten. Keiner alten Frau, keinem Menschen mit Behinderung, keinem Niedriglohnbezieher geht es jetzt besser. Im Gegenteil. Die Pläne mit Abschaffung der Notstandshilfe, Streichung der Hilfen am Arbeitsmarkt oder Kürzungen bei chronisch Kranken belasten gerade diejenigen, denen wegen der „Flüchtlinge“ Gerechtigkeit versprochen wurde. Die Kürzung der Familienberatungsstellen österreichweit, der Stopp des Ausbaus von Ganztagsschulen und das Einfrieren von Investitionen in Kindergärten geht zu Lasten von Kindern in den unteren drei Haushaltsdezilen. Ich soll einen Kommentar schreiben, erzähle ich Stefanie, drei Kinder, krank, prekäre Jobs und immer wieder Mindestsicherung. „Schreib was ich mir am meisten wünsche“, sagt sie: „Gesundheit und dass es meinen Kindern einmal besser geht.“

Im Salzkammergut steht ein höchst erfolgreiches Sozialprojekt vor dem Aus. Ein Fahrtendienst, der besonders ältere Menschen unterstützt zum Arzt, zur Therapie und zum Einkauf zu kommen. Eine Initiative, die wichtig ist für die Menschen in der Region. Nun verlieren neben den zahlreichen Fahrkunden auf einen Schlag 12 Fahrer und Verwaltungskräfte ihre Arbeitsstelle und eine wertvolle, sinnstiftende Aufgabe. Was macht nun die Regierung, um von diesen Folgen abzulenken? Genau, sie verkündet ein „Ausländersparpaket“. Und verpackt darin alle Maßnahmen wie die Einstellung des Fahrtendienstes im Salzkammergut oder die Kürzung der Familienberatungsstellen. Damit alle glauben, das trifft sie nicht. Damit Kürzungen im Sozialstaat reibungslos durchgesetzt werden können. In Wirklichkeit handelt sich um ein Kürzungspaket bei Kindern, Arbeitssuchenden, Kranken und Familien im unteren Einkommensviertel. Wenn sie „Ausländer“ sagen, meinen sie uns alle, weiß Stefanie.

Das können wir als 3. lernen: Der Neid-Trick schadet einem selbst, weil man sich das, was einem nützt, selbst versagt. Er ist ein Instrument, um die auseinanderzutreiben, die sich eigentlich zusammenschließen könnten, um ihre eigene Lebenssituation zu verbessern. Er ist ein Gift, das Leute mit ähnlichen Interessen spaltet. Er nützt den Trickdieben, sagt Stefanie, uns nicht.
Ziel muss es doch sein, Existenz und Chancen zu sichern, nicht Leute weiter in den Abgrund zu treiben. Die Chancen für 80.000 Kinder weiter zu verschlechtern, Familien in desolate Wohnungen zu treiben und Menschen mit Behinderungen weiter zu belasten, all das sind nicht die Werte, die uns stark gemacht haben.

Von Martin Schenk (Sozialwissenschafter, Psychologe, stv.Direktor der Diakonie, Mitbegründer Armutskonferenz)

Erstmals erschienen in "Die Furche"

Veröffentlicht am 25. Juni 2018