Was kann Anerkennung im Kampf gegen Armut und Ungleichheit?
Ein Rückblick auf die 11. Armutskonferenz
Romy Reimer machte es ganz klar: Anerkennung genügt nicht! Die Sozialökonomin zeigte im Eröffnungsstatement der Armutskonferenz die Gefahr der Benutzung von Anerkennung zur Legitimation bestehender Machtordnungen auf. Aktuell ist Reimer im Forum Gemeinschaftliches Wohnen e.V., Hannover, tätig. Aus diesem Bereich kommen auch Reimers alternative Vorstellungen „ermächtigender Anerkennung“, wie sie das nennt. In ihrer Dissertation hatte sie sich mit dem „Blinden Fleck der Anerkennungstheorie“ auseinandergesetzt; aus „Empörung“ – wie sie sagt – über den Versuch des Frankfurter Sozialphilosophen Axel Honneth, sämtliche Gesellschaftskritik in Anerkennungstheorie aufgehen zu lassen.
Arbeitsmarkt – Ort der Selbstschätzung?
Individuen, so skizziert Reimer Honneths Ansätze, sind auf intersubjektive Anerkennung angewiesen, um zu Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung fähig zu sein bzw. diese erwerben zu können. Drei gesellschaftliche Sphären sind in der Theorie Honneths laut Reimer für das Gelingen intersubjektiver Anerkennung zentral: erstens Familie und soziale Nahebeziehungen für den Erwerb von Selbstvertrauen, zweitens Rechts- und Werteordnungen für den Erwerb von Selbstachtung und drittens der Bereich des Sozialen bzw. der gesellschaftlichen Arbeit, in dem das Individuum über die Möglichkeit der Einordnung der eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften Selbstschätzung erlangen kann.
In ihrer Kritik an Honneths Anerkennungstheorie legt Reimer den Schwerpunkt auf diese Sphäre des Arbeitsmarktes. Hier will sie zeigen, was ihre grundsätzliche Kritik an Honneth ist: dass es sich um keine umfassend herrschaftskritische Theorie handelt, sondern um eine, die lediglich das Versagen der die herrschende Ordnung stützenden Institutionen sowie die in ihnen verkörperten Werte und Normen kritisiert. Honneth, so Reimer, erkläre die Sphäre des Arbeitsmarktes als Stätte gemeinschaftlicher Solidarität. Anerkennung können daher nur jene erfahren, die sich an den Leistungen der Arbeitsgesellschaft beteiligen und damit einen Beitrag zur nationalen Wohlfahrt leisten. Mit diesem Verständnis setzt Honneth den Arbeitsmarkt als Sphäre der Gerechtigkeit – die Institution als solche ist damit nicht mehr kritisierbar. Honneths Anerkennungstheorie setzt, so Reimer, den starken westlichen Nationalstaat voraus, der regulierend in den Arbeitsmarkt eingriff um die Fiktion des gerechten Tausches aufrechterhalten zu können bzw. in diesem Sinne zu korrigieren – insofern eignet sich Honneths Anerkennungstheorie, wie Reimer sie versteht, als ideologischer Überbau der sozialen Marktwirtschaft. Diesem anerkennungstheoretischen Überbau ist aber die ökonomische Basis abhanden gekommen, analysiert Reimer. Das führt zu der aktuell herausfordernden Situation, dass der Arbeitsmarkt zwar einzelnen Gesellschaftsmitgliedern soziale Anerkennung ermöglichen mag, andere aber gleichzeitig ausgeschlossen oder in Verhältnisse gezwungen werden, die wenig mit Respekt und Achtung zu tun haben.
In ihrer kritischen Betrachtung von Anerkennung stützt sich Reimer auf Pierre Bourdieu. Bourdieu, so Reimer, verstehe Anerkennung vorrangig als Mittel und Medium der Ausübung sozialer Herrschaft und nicht als Motor einer emanzipatorischen individuellen Entwicklung. Was Anerkennung erfährt ist der Vorgang der unbewussten Unterwerfung unter gesellschaftliche Verhältnisse, die in diese eingeschriebenen Ordnungs- und Teilungsprinzipien – also die ständig reproduzierten Ungleichheitsverhältnisse – und die staatlich institutionalisierte Ordnung. Durch gesellschaftliche Institutionen – das sind Kindergärten, Schulen, Universitäten ebenso wie Sozialbehörden, Finanzämter und eben auch der Arbeitsmarkt – werden die bestehenden Ungleichheitsverhältnisse „in Körper und Geist eingeschrieben“.
Ermächtigende Anerkennung: gemeinsam politisch handeln
Wie dieser ständigen Reproduktion der Ungleichheitsverhältnisse und der damit verbundenen Zementierung „alter“ Ungleichheiten und Spaltungen bzw. der Schaffung „neuer“ Ungleichheiten und Spaltungen entgehen? Reimers Ansatz verlangt, gleichsam die Basis der Ungleichheitsverhältnisse, nämlich die gesellschaftlich anerkannten Ordnungs- und Teilungsprinzipien, in Frage zu stellen und ihre Wirkmechanismen und die institutionelle Ordnung zu kritisieren. Von dieser Basis aus ist es möglich, so Reimer, Anerkennung doch auch eine positive, „ermächtigende“ Dimension abgewinnen zu können. Hannah Arendt folgend, stellt Reimer gemeinsames politisches Handeln ins Zentrum dieser positiven Dimension: in diesem gemeinsamen politischen Handeln erfahren Subjekte Anerkennung als einander Gleichgestellte. Solche Räume gemeinsamen politischen Handelns sieht Reimer insbesondere auf lokaler und lokalpolitischer Ebene – nicht einfach schon gegeben, sondern als solche zu erkämpfen: etwa um sicheren und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, um in einem sozialen Umfeld mit nachbarschaftlicher Unterstützung und wechselseitiger Verantwortung leben zu können, um Lebensraum durch Sharing oder gemeinsame Wirtschaftsflächen zu gestalten.
Politik für die „hart arbeitenden Menschen“
Unterstützung seitens der Politik soll es für die „hart arbeitenden Familien“ geben und nicht für die „Wohlfahrts-Abhängigen“; für die, „die es verdienen, unterstützt zu werden“, nicht für die „Unwürdigen“, für die „Strebsamen“ und nicht für die „Drückeberger“. Nein, das zweite Eröffnungsstatement der heurigen Armutskonferenz war keine Analyse österreichischer Innenpolitik, sondern ein Bericht aus Großbritannien. Die Sozialwissenschafterin Ruth Patrick (University of Liverpool), eng zusammenarbeitend mit britischen Service-User-Gruppen und AktivistInnen, analysierte die mit den britischen Sozialhilfe-Reformen einhergehende Sozialschmarotzer-Debatte und ihre Auswirkungen auf Armutsbetroffene und deren partizipative Ansätze des Widerstandes.
Wenn Patrick über das politische Konzept hinter den Wohlfahrts-Reformen in Großbritannien spricht, wählt sie das Bild der Dampfwalze, um die desaströsen Wirkungen der letzten 30 Jahre nachvollziehbar zu machen: in die soziale Sicherheit und die sozialen Rechte von Menschen wurden breite Schneisen „gefahren“. Zentrale Punkte dieses Polit-Konzeptes (insbesondere seit 2010): der Fokus auf bezahlter Arbeit als „best form of welfare“; ein Wohlfahrtssystem, das als Vertragssystem zwischen Sozialbehörden und TransferempfängerInnen behauptet wird (wiewohl die Höhe der Leistungen ständig sinkt); die Vermehrung und Ausweitung von Bedingungen, an die der Bezug von Wohlfahrtsleistungen geknüpft wird; die Festsetzung von monetären Grenzen für die staatliche Unterstützung eines Haushalts; die Einführung neuer, problematischer Transferleistungen (wie zum Beispiel Universal Credit); der Wechsel zu Programmen, die Arbeitsplätze subventionieren; etc. Die britische (Boulevard-)Presse begleitet diese Politiken und die damit verbundene Rhetorik mit immer heftigerer „Armuts-Pornografie“: z.B. werden ganze Straßenzüge unter der Überschrift „Benefits Street“ ins Bild gerückt.
Soziale Sicherheit als machtvolles Inklusionsinstrument
Die Wirkungen dieser Politik sind deutlich, nämlich die Ausweitung sozialer Unsicherheit (Zunahme von Kinderarmut; Zunahme der Entbehrungen im Grundbedarfsbereich,…) und eine Vertiefung sozialer Spaltung. Das „Regieren durch Stigma“ (Imogen Tyler, University of Lancaster) produziert Abgrenzungs- und Entsolidarisierungs-Strategien innerhalb jener Gruppe, die insgesamt das Ziel dieser Politiken und Kampagnen ist – das macht Widerstand noch schwieriger. Und doch kann Patrick über beteiligungsorientierte Forschungsprojekte – wie das Dole Animators project http://www.doleanimators.org/ – berichten, die das Ziel haben, eine Alternative zu der regierenden Vorstellung von „welfare“ zu entwickeln! Im Rahmen solcher Beteiligungsprojekte und selbstbestimmter Öffentlichkeitsarbeit gelingt es, die Erfahrungen Betroffener als die entscheidende Expertise wertzuschätzen, unser aller Abhängigkeit voneinander anzuerkennen und zu thematisieren, Möglichkeiten eines „beschämungsfreien“ Systems sozialer Sicherheit zu entwickeln, soziale StaatsbürgerInnenschaft („social citizenship“) als machtvolles Inklusionsinstrument zu positionieren; bezahlte Arbeit in Bezug auf dieses „Citizenship“-Denken neu zu konzipieren und das auf dem Ansatz der sozialen Rechte basierende Engagement für soziale Sicherheit gegenüber den problemorientierten Analysen von Sozialstaatlichkeit zu fördern.
Viel zu tun also auch für die 43 Mitgliedsorganisationen der Armutskonferenz und ihre 6 regionalen Armutskonferenzen. So sahen das auch Inge Hannemann, die Bloggerin und Hartz-IV-Kritikerin und Wolfgang Schmidt, Plattform Sichtbar Werden, beim Podium „Achtung: Gemeinsam gegen Ungleichheit, Ohnmacht & Spaltung!“. Schmidt appellierte an die zahlreichen TeilnehmerInnen der Konferenz, einen Beitrag dazu zu leisten, dass Sozialabbau, Willkür und Beschämungsstrategien als Themen an die Öffentlichkeit kommen und nicht die Betroffenen selbst vorgeführt werden. Das was im wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Diskurs als Reformen analysiert und gut oder schlecht bewertet werde, „spüren wir am Leib“, sagte Schmidt. Die Betroffenen selbst können nicht gegen die Verschlechterungen sozialer Sicherheit oder gegen die Beschimpfung und Abwertung von VerliererInnengruppen streiken: „…ihr aber könntet einen Sanktionen-Streik machen!“, so der Appell von Schmidt.
Präsentationen, Videos, Pressemitteilungen der 11. Armutskonferenz:
Von Margit Appel (Politologin, Mitarbeiterin der ksoe)
erstmals erschienen auf blog.ksoe.at
Veröffentlicht am 13. Juni 2018