Almosen statt Menschenrechtsanspruch durch die Digitalisierung des Wohlfahrtsstaats?
Die Digitalisierung des Wohlfahrtsstaats und Menschenrechte? Dieser Zusammenhang ist Thema des erst kürzlich veröffentlichen Berichts des Sonderbotschafters der Vereinten Nationen zu extremer Armut, Philip Alston. Im Folgenden eine Analyse und Zusammenfassung der Ergebnisse.
Der Sonderbotschafter der Vereinten Nationen zu extremer Armut, Philip Alston, hat seinen jährlichen Bericht Mitte Oktober der Generalversammlung der Vereinten Nationen präsentiert. Sonderbotschafter werden als unabhängige Expert*innen für verschiedene Menschenrechtsthemen vom Menschenrechtsrat in Genf bestellt. Alston hat zuletzt mit einem Bericht über die Armut in Großbritannien viel Aufmerksamkeit erzeugt (siehe Bericht Guardian) .
In seinem neuesten Bericht diskutiert Alston die Auswirkungen der Digitalisierung des Wohlfahrtsstaats. Die menschenrechtliche Kritik an Digitalisierung hat bis dato politische und bürgerliche Rechte – insbesondere Datenschutz und den Schutz der Privatsphäre – in den Fokus genommen. Die Relevanz von sozialen Menschenrechten, so Alston, ist bis dato völlig unterbeleuchtet. Der Sonderbotschafter kritisiert die Geschwindigkeit und auch die angebliche Unauswegbarkeit von Digitalisierung scharf. Er betont, dass die Kontrollen, die die Digitalisierung möglich – und auch notwendig – macht, tiefe Eingriffe in grundlegende Menschenrechte bedeutet. Die kleinste Fehlleistung, eine minimale Unpünktlichkeit und komplette Überwachung von Geldverwaltung und Konsumentscheidungen können sich gerade auf von Armut betroffene Personen verheerend auswirken. Die mangelnde Vielfalt in der Programmierung von künstlicher Intelligenz verstärkt all dies noch zusätzlich.
Alston weist unter anderem nach, dass die Nicht-Nutzung des Internets unter armutsbetroffenen und armutsgefährdeten Personen besonders hoch ist und neben ökonomischen Faktoren (Kosten eines Computers und Internetzugang), sowie Fragen der technischen Fertigkeiten im Bedienen von Computern, auch die Angst vor dem Internet als unsicherer Ort eine überproportional hohe Zahl von armutsgefährdeten und armutsbetroffenen Personen erfasst (Randzahl 41).
Bittsteller*innen statt Menschenrechtsansprüche
Die Tendenz, dass Menschen keinen (menschen)rechtlichen Anspruch auf Sozialleistungen haben, wird laut dem Bericht des Sonderbotschafters durch die Digitalisierung verschärft. „Der digitale Wohlfahrtsstaat ist getragen von der Annahme, dass Menschen nicht Menschenrechtsansprüche haben sondern lediglich Antragstellende sind. In dieser Konstellation muss die Person den Entscheidungsträger davon überzeugen, dass sie die Unterstützung verdient, dass sie die Voraussetzungen erfüllt, dass sie den Kriterien entspricht und sie keine andere Form der Unterstützung hat. Und das alles muss elektronisch passieren, ohne Rücksicht auf die Fähigkeiten der Person.“ (Rz 50).
Den Mangel an persönlicher Interaktion und den vielfach kompletten Wegfall an individueller Betreuung rügt der Sonderbotschafter gegen extreme Armut besonders scharf: „Digitale Serviceleistungen riskieren die fast völlige Ausschaltung von menschlichen Interaktionen und Mitgefühl, die unverzichtbarer Teil in der Sicherstellung von Wohlfahrtsleistungen für viele armutsbetroffene Personen sind. Die Annahme, dass es immer eine technologische Lösung für jedes Problem gibt ist höchstwahrscheinlich deplatziert in vielen Aspekten der sozialen Sicherheit.“ (Rz 56)
Sehr eindringlich warnt der Sonderbotschafter vor den Gefahren von künstlicher Intelligenz – dem Einsatz von Algorithmen. So würden die menschenrechtlichen Konsequenzen völlig fehleingeschätzt, wenn statt der nachträglichen Würdigung von möglichen Regelverstößen, die möglichen Risiken eingeschätzt werden (Rz 62).
Die Anhörung Alstons in der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist hier zu finden. An der New York University Law School gibt es am Center for Human Rights and Global Justice nunmehr ein eigenes Projekt zu den menschenrechtlichen Folgen der Digitalisierung des Wohlfahrtsstaats.
Marianne Schulze, SozialRechtsNetz
Veröffentlicht am 10.12.2019