Ich habe jahrzehntelang eingezahlt und fühle mich trotzdem beschämt

Karl berichtet über Beschämung im Sozialsystem

c_lucy_lynn-die-armutskonferenz

Die längste Zeit in meinem nun gut sechzigjährigen Leben war ich ein richtiger „Ozahrer“. Ich habe unter anderem im Exportbereich der Stahlbranche als Gruppenleiter gearbeitet. Ich bin auch Zeit meines Lebens immer außerberuflich engagiert gewesen und bin es auch nach wie vor, im Rahmen des mir noch Möglichen. So unterstütze und leite ich eine Sektion Fußball im Rahmen der Freizeitgruppen von „Pro Mente“, wo ich neben der Armutskonferenz auch heute noch aktiv tätig bin. Vorher habe ich mich ebenfalls längere Zeit für den Verein „Zum alten Eisen?“ eingesetzt und war dort vorübergehend als Obmann tätig.

Ich wusste nicht wie das Leben weitergehen sollte ...

Doch die chronische psychische Erkrankung riss mich damals komplett aus meinem gewohnten alltäglichen Lebenszusammenhang. Der Prozess hin zur Krankheit war schleichend und ist nicht von einem auf den anderen Tag passiert. Mitte vierzig war ich, als damals innerhalb von ein paar Wochen bzw. Monaten meine ganz normalen Strukturen durch die Krankheit wegbrachen. Das waren ganz selbstverständliche Dinge, wie in die Arbeit zu fahren, mich mit meinen Kollegen und Kolleginnen zu unterhalten und Kontakte zu pflegen. Das alles ging auf einmal nicht mehr, zumindest nicht mehr so, wie ich es gewohnt war. Zu jener Zeit fielen zu viele negativ belastende Vorfälle zusammen. Denn ich hatte schon Schwierigkeiten mit unvermeidlichen, häufigen Jobwechseln, den hohen Leistungsanforderungen – und dann verstarb noch dazu meine Mutter. Das alles wirkte massiv auf mich ein und war für den weiteren Krankheitsverlauf entscheidend.

Das schlimmste war festzustellen, dass ich nicht mehr wirklich leistungsfähig und auf Unterstützung angewiesen war. Denn alleine wäre ich ganz bestimmt nicht aus diesem dunklen Loch, in das ich hineingefallen war, herausgekommen. Doch leider stellte sich bei mir in der Zeit, in der ich nicht mehr arbeiten konnte und kein regelmäßiges Einkommen bezogen habe, immer mehr und immer schneller auch die materielle Armut ein. Ich musste von Tag zu Tag schauen, wie ich ein halbwegs vernünftiges Auskommen finden konnte. Was noch erschwerend hinzukam, war, dass durch die Arbeitslosigkeit auch die Anerkennung für meine Tätigkeiten wegfiel. Das hat viel dazu beigetragen, dass es mir noch schlechter ging, als es eigentlich schon der Fall war.

Doch auch das wäre nur halb so schlimm gewesen, hätte ich nicht immer wieder Erfahrungen durch Ablehnung, Missachtung oder Beschämung gemacht. Nicht nur ich, sondern die meisten von Armut Betroffenen, müssen stetig mit den unterschiedlichsten Vorurteilen und Pauschalisierungen kämpfen und beweisen, dass sie nicht nur in der sozialen Hängematte rumlungern wollen. Mir wäre das auch nie in den Sinn gekommen. Jedoch musste ich mir trotzdem bei unterschiedlichen Amtsbesuchen oder in privaten Gesprächen anhören, wie faul, schlecht und verwerflich ich denn nicht sei. Dabei sind oft Aussagen gefallen, wie: „Der lebt doch nur auf unsere Kosten“, „Das ist ein Owizahrer“, „Der will sowieso nichts tun“ oder „Der hat sich halt nicht richtig angestrengt“. Und auch wenn nicht immer direkt über oder mit mir gesprochen wurde, kam immer wieder implizit heraus, dass ich irgendwie minderwertig sei, und dass ich meine Situation selbst verschuldet hätte. Ganz so als würde ich freiwillig nicht arbeiten und vom existenzsichernden Minimum durch sozialstaatliche Hilfen angewiesen sein wollen.

Die negativen Erfahrungen, die ich bei den Ämtern oder auch bei Ärzten gemacht habe, waren insofern sehr schlimm für mich, weil sie es prinzipiell in der Hand haben, ob sie mir die rechtmäßig zustehenden Beiträge zugestehen oder nicht. Die können dich im schlimmsten Fall wirklich zerstören, wenn sie dir das Geld einstellen. Das Arbeitsamt etwa hat mehrere Male im Jahr versucht, Teile meines mir zustehenden Bezugs zu streichen – mit abstrusen Behauptungen, die zum Glück nicht haltbar waren. Es gab auch viele heikle Situationen bei Ärzten, die darüber mitbestimmen, welche Art und Höhe von Leistungen ich in Anspruch nehmen konnte. Obwohl ich wirklich krank war, hat ein junger Arzt mich beispielsweise weder wirklich angeschaut noch angehört. Er hat einfach nur gesagt, er müsse mich vom Krankengeldbezug der Krankenkasse abmelden. Das war eine sehr brutale Vorgehensweise. Ich war in dem Moment komplett unter Schock, da ich sowieso nicht so recht wusste, wie das Leben weiter gehen sollte.

Das hat sich alles wie Hohn und Spott angefühlt

In einer anderen Situation, an einem heißen Hochsommertag in einem AMS ging es mir ganz ähnlich. Da ich durch die damalige Hitze schweißüberströmt und mit rotem Gesicht vorstellig wurde, war die erste Aussage meines damals zuständigen Betreuers nicht etwa, „Geht es Ihnen gut? Brauchen Sie ein Glas Wasser?“, sondern „Ich muss sie vom Arbeitslosenbezug abmelden. Sie sind ja krank.“ Bei einer anderen öffentlichen Institution, der PVA, wurde wiederum meine Ansuchen bezüglich Anerkennung auf Pension trotz vorliegender Krankenbefunde nicht berücksichtigt und meine Situation massiv heruntergespielt. Ich war dort und habe alles vorgelegt und dann wurde mir, ohne dass die Unterlagen mit einem Blick gewürdigt wurden, mein Antrag einfach abgelehnt. Also, hämischer und höhnischer geht es kaum. Da war ein fast zehnseitiger Endbefund nach absolvierter „Reha“ dabei, der nach monatelangen Kontakten mit Fachärzten entstanden ist; und dann will mir jemand sagen, der nicht einmal einen Blick darauf wirft, was mit mir wirklich los ist.

Das hat sich alles wie Hohn und Spott angefühlt. Wenn man am Anfang noch nicht durchschaut hat, wie das alles so läuft, dann fühlt man sich selber auch noch beschämt, teilweise sogar ganz schlimm. Umso trauriger ist die Tatsache, dass jeder erkranken kann und niemand sich so behandeln, beschämen und niedermachen lassen will. Daran sind schon viele Menschen zugrunde gegangen. Denn ich habe schon einige Fälle miterlebt, wo Betroffene sich selbst das Leben genommen haben, weil sie irgendwann diese ständige Beschämung und Herabwürdigung nicht mehr ausgehalten haben.

Trotzdem habe ich nie die Hoffnung und die Zuversicht verloren, dass sich die Dinge zum Besseren wenden können. Sowohl Freunde, Betreuer und Familienmitglieder, die meine Krankheit akzeptieren konnten, als auch „Pro Mente“ oder der Verein „Zum alten Eisen?“ halfen mir schrittweise durch die beschwerliche Zeit. Mittlerweile fällt bei mir durch den Pensionseintritt und den regelmäßigen Pensionszahlungen eine große und langanhaltende Belastung weg. Jetzt habe ich es noch soweit in der Hand, dass ich etwas Besseres aus meiner Zukunft machen kann, die noch vor mir liegt. Ich muss mich viel beschäftigen und vieles nachholen und nachlernen, was ich in diesen schwierigen Jahren nicht machen konnte. Aber man lernt nie aus und auch wenn nicht immer alles so rasch vorangeht, muss man sich den Aufgaben stellen. Das ist, glaube ich, sehr wesentlich und gilt für uns alle.

Interview und Protokoll von Sebastian Obermair

Veröffentlicht am 18. Jänner 2019


Die Armutskonferenz thematisiert Beschämung auch im Rahmen des von der Gesundheit Österreich GmbH geförderten Projektes „Gesundheitsförderung zwischen Wertschätzung und Beschämung – GWB. Gesundheitliche Belastungen von Armutsbetroffenen durch Abwertung und vorenthaltene Anerkennung vermeiden“.

Zur Projektbeschreibung