„Mich sieht der Arzt erst, wenn ich den Kopf unterm Arm trag“

Keine Wahlmöglichkeiten zu haben ist beschämend

P. ist eine Kämpferin. Aus Trotz, sagt sie, hat sie sich immer durchgebissen. Abgeschlossene Berufsausbildung mit Auszeichnung. Einzelhandelskauffrau. Nicht ihr Traum. Eigentlich wollte sie das nie machen. Vor ein paar Jahren hat sie durchgesetzt, dass sie eine Ausbildung zur sozial- und berufspädagogischen Trainerin machen kann. „Weil der soziale Bereich meins ist!“ sagt sie und erzählt mir von ihrem ehrenamtlichen sozialen Engagement.

"Plötzlich war es nur noch ein Job für Autofahrer"

Nach ihrer Ausbildung zur Trainerin hatte P. einen Transitarbeitsplatz in einer externen Hauptschule. Spaß hat ihr der Job gemacht, aber sie konnte dort nicht länger beschäftigt werden. Aus budgetären Gründen war ihre Stelle nicht als fester Arbeitsplatz vorgesehen. P. hat danach als Deutschtrainerin gearbeitet. Zumindest eine Zeit lang. Als die Deutschkurse nicht mehr im selben Ausmaß gefördert wurden, war nur noch ein(e) Trainer(in) im Kurs vorgesehen. P. stand wieder ohne Job da. Denn es war ganz klar, dass sie den Job in Zukunft nicht mehr machen kann, ohne Führerschein und Auto. Früher hat sie der Kollege vom Bahnhof abgeholt. Den Unterricht allein abzuhalten wäre nicht das Problem gewesen, aber viele Unterrichtsorte waren mit öffentlichen Verkehrsmitteln nur schwer erreichbar. „Plötzlich war es nur noch ein Job für Autofahrer. Führerschein und Auto waren jetzt Voraussetzung.“ Dass sie den Führerschein aufgrund einer Sehbehinderung nicht machen kann, hat niemanden interessiert.

Barrierefreiheit statt Rücksichtnahme

Ihr Auftreten ist kraftvoll; die Unsicherheiten, die auf die Einschränkung ihres räumlichen Sehvermögens zurückgehen, sind für Menschen wie mich, die ihr zum ersten Mal in einem großen Raum begegnen, nicht zu bemerken. „Solang ich a bissal a Liachterl no hab, lass ich mich nicht behindert schreiben.“ Das ist für P. einfach keine Option – höchstens, die allerletzte.

Mit einer amtlich festgestellten Behinderung wäre ihre Chance auf eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt noch geringer – so ihre Befürchtung. Gleichberechtigung ist ihr wichtig. Dass dann alle Nachsicht haben, weil ihnen klar ist, sie ist behindert? Nein, das will sie nicht. Egal ob im Alltag oder am Arbeitsmarkt: Barrierefreiheit, nicht Rücksichtnahme ist das, was sie sich wünscht und von einer Gesellschaft eigentlich auch erwartet.

In ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen zu werden, empfindet P. als beschämend. Aufgrund der Einschränkung ihres Sehvermögens Fehler zu machen, ist ihr unangenehm. Im Supermarkt passiert es ihr manchmal, dass sie in den Gängen, die viel zu eng sind, die aufgestapelten Waren ‚abräumt‘, also etwas umwirft.

Ich erfahre wie abweisend Menschen reagieren, wenn P. etwas nicht lesen kann, weil es zu klein gedruckt ist. Und dass Hilfe beim Aufladen eines Wertkartentelefons bei zumindest einem Handyanbieter ein kostenpflichtiges Kundenservice ist. Wenn es eine Schande ist nachzufragen, dann ist Unterstützung einzufordern, ein Kraftakt.

Gemeinsam entwickeln wir in unserem Gespräch die Idee, dass eine Gesellschaft, die Menschen in ihren Bedürfnissen ernst nimmt, keine Beschämung produziert. Keine Wahlmöglichkeiten zu haben als Mensch mit oder ohne Behinderung, ist beschämend. Rasch landen wir bei dem Begriff der Würde und bei den Menschenrechten. Körbe flechten oder Besen binden in einer Werkstätte – das ist der Alltag für viele blinde oder sehbehinderte Menschen in Österreich. Ohne Gehalt, für ein Taschengeld.

Dem System und den eigenen Ängsten ausgesetzt

Früher hat P. im Call Center gearbeitet; solange bis es nicht mehr ging. Oft ist sie krank in die Arbeit gegangen. Ihre Fehltage konnte man an einer Hand abzählen. Nach einem Burnout sollte auf der ‚Gesundheitsstraße‘ ärztlich überprüft werden, ob P. wieder in ein Call-Center vermittelt werden kann. Aufgrund eines Kindheitstraumas hat P. panische Angst vor Arztbesuchen und medizinischen Untersuchungen. Ärztephobie, nennt sie das. Heute noch verfolgen sie Alpträume und Panikattacken. Als sie dann unter Sanktionszwang auf die ‚Gesundheitsstraße‘ musste, ist sie tausend Tode gestorben. „Ich kann nicht sagen, dass mich jemand persönlich abwertend behandelt hat, aber dass du gezwungen wirst diese Sachen zu machen, obwohl du panische Angst hast und wieder einmal in einer Situation bist, die du nicht kontrollieren kannst…“

Es waren Untersuchungen, deren Sinn sich ihr nicht unmittelbar erschlossen haben. Sie erinnert sich vor allem an ein Gefühl des Kontrollverlusts und an das beschämende Gefühl, „… dem System und deinen eigenen Ängsten so ausgesetzt zu sein. Weil, sie können dir das das Geld streichen und deine ganze Existenz vernichten, wenn du dieser Aufforderung nicht nachkommst.“

Da sie Arztbesuche aus Angst bisher vermieden hatte, hatte sie über „ihre Baustellen“ keine Befunde vorliegen. Eine chronische Atemwegserkrankung, an der sie schon seit ihrer Kindheit vor allem in der kalten Jahreszeit leidet und ihre kaputten Knie waren nirgends vermerkt und konnten daher auf der ‚Gesundheitsstraße‘ nicht richtig diagnostiziert werden. In dieser Stresssituation fühlte sich P. nicht in der Lage einer Blutabnahme zuzustimmen, was als mangelnde Kooperation in ihrem Akt vermerkt wurde. Selbst das Ausmaß ihrer Sehbeeinträchtigung fand auf der ‚Gesundheitsstraße‘ keine Beachtung. Wer nicht zum Arzt geht, hat auch keine Krankengeschichte, stellt sie trocken fest.

Gerade wenn man nichts vorweisen kann, werden psychische Erkrankungen wie Ängste, Burnout oder Depressionen nicht wirklich ernst genommen. „Tachinierer oder sonst irgendwie wehleidig und einfach nur zimperlich sein…“, das ist es, was sie von einem denken. Es wird einem nicht geglaubt, weil es einfach nichts zu sehen gibt. Die Gesellschaft braucht Pflaster, einen Gipsverband oder eine Blindenschleife um zu erkennen und anzuerkennen, dass einem Menschen was fehlt.

„Psychotherapie das ist ja nur was für Stars, wenn der Frisör keine Zeit hat. So denken die meisten Leute. Das wird dann so gehandhabt wie mit den Zähnen: als wären das Schönheitsoperationen. Obwohl du das brauchst. Weil du Zähne brauchst, damit du gescheit essen kannst.“

P. wurde über kirchliche Unterstützung eine Zahnsanierung ermöglicht. Ohne Zähne hätte sie keine Arbeit gefunden. Diese Diskriminierungserfahrung sitzt ihr noch heute in den Knochen. Auf Jobsuche wurde sie auf ihr Aussehen und ihre schlechten Zähne reduziert. Dabei wollte sie einfach nur arbeiten, in einem ganz normalen Job und nicht als Model oder in einer Modeagentur. „Mit schlechten Zähnen wird gleich vorausgesetzt, dass man nicht zuverlässig ist oder schlampig oder sonst irgendwas …“

Ob das alles rechtens ist ...

Zum Schluss erzählt mir P. noch die Geschichte, wie die auf der ‚Gesundheitsstraße‘ mit Angstschweiß bezahlten medizinischen Befunde zu ihr gekommen sind. Sie wurden ihr nicht vor Ort ausgehändigt oder auf dem Postweg zugestellt. Ihr AMS-Berater hatte sie beim nächsten Termin auf seinem Schreibtisch liegen. Er war nicht nur über die ihr zumutbaren Tätigkeiten informiert, sondern auch über ihre Körpergröße und ihr Gewicht. Der Berater konnte direkt in ihre Gesundheitsakte Einsicht nehmen. Diese enthielt eine Einschätzung ihrer Arbeitsfähigkeit, die nicht mit ihrem Gesundheitszustand in Einklang zu bringen war.

Darüber hinaus war P. verwundert, dass die Weitergabe durchaus intimer Daten ohne ihre Zustimmung möglich ist. Dass medizinische Befunde nicht vertraulich behandelt werden, wenn doch im Gutachten alle für das AMS relevanten Informationen enthalten sind, versteht sie nicht. „Ich bin in mir vorkumma wie ein Gaul, den man ins Maul schaut, damit man weiß wie alt er ist und ob er überhaupt noch zu was taugt.“ Ob das alles rechtens ist, das weiß sie nicht.

Portrait erstellt von Saskia Hnojsky

Veröffentlicht am 28. Jänner 2019


Die Armutskonferenz thematisiert Beschämung auch im Rahmen des von der Gesundheit Österreich GmbH geförderten Projektes „Gesundheitsförderung zwischen Wertschätzung und Beschämung – GWB. Gesundheitliche Belastungen von Armutsbetroffenen durch Abwertung und vorenthaltene Anerkennung vermeiden“.

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