Wie uns die Landesregierung die wirtschaftliche Erholung ersparen will
Offener Brief der Vorarlberger Armutskonferenz an die Landesregierung hinterfragt die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit von Sparmaßnahmen im Gesundheits- und Sozialwesen, Nulllohnrunden und Aufschub von Bauprojekten
Mit Verweis auf voraussichtlich 150 Mio. Euro Schulden im Landeshaushalt zum Jahreswechsel kündigt die Landesregierung Kürzungen im Gesundheits- und Sozialwesen, Nulllohnrunden sowie weitere Ausgabenkürzungen wie z.B. den Aufschub von Bauprojekten an. Die Vorarlberger Armutskonferenz hält solche Kürzungen in der aktuellen Wirtschaftskrise für völlig kontraproduktiv und angesichts historisch niedrigster Kreditzinsen (nominell: 0,25%, real: -0,5%) für nicht argumentierbar.
In einem offenen Brief an die Landesregierung begründet die Armutskonferenz ihre Kritik. Sie weist die Landesregierung darauf hin, dass konjunkturelle Maßnahmen, die durch Einsparungen in anderen Ausgabenbereichen finanziert werden, keine wachstumsfördernde Wirkung entfalten und dass in der jetzigen Situation nicht Schulden künftige Generationen belasten werden, sondern die vorgenommenen Einsparungen, weil sie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Zukunft massiv verschlechtern. Wenn die Landesregierung von ihren Plänen nicht abrückt, erwartet die Armutskonferenz eine Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Erholung, die Gefährdung von Arbeitsplätzen von (noch) Beschäftigen und einen weiteren Anstieg der ohnehin schon hohen Armutsgefährdung im Lande.
Der offene Brief und die Argumentation der Vorarlberger Armutskonferenz im Wortlaut:
Sehr geehrte Frau Landesrätin Rüscher,
sehr geehrte Frau Landesrätin Wiesflecker,
sehr geehrter Herr Landeshauptmann Wallner,
mit Verwunderung haben wir das Schreiben der beiden Landesrätinnen im Namen des Sozialfonds an die Mitglieder des AGV gelesen, in dem unter Verweis auf die krisenbedingte Haushaltssituation des Landes eine Kürzung von 5% im Sozialbereich als Solidaritätsbeitrag gegenüber Arbeitslosen begründet wird. Was in dem Schreiben nicht erwähnt wird, aber bekannt ist, sind zusätzlich im Spitalsbereich geplante Kürzungen in Höhe von 10%. Da wir davon ausgehen, dass die in dem Schreiben zum Ausdruck kommende Grundhaltung im Umgang mit der aktuellen Krise von der Landesregierung insgesamt geteilt wird, richten wir unsere Antwort auch an Sie, Herr Landeshauptmann.
Lassen wir die sozialpolitischen Implikationen Ihrer Vorhaben beiseite und beschränken uns auf die nüchternen Zahlen und ihre wirtschaftlichen Konsequenzen: Die von Ihnen zum Jahreswechsel erwarteten 150 Mio. Euro Verschuldung auf Landesebene sind weniger als 8% Ihres aktuellen Landeshaushalts. Damit bewegen Sie sich im unteren Bereich dessen, was derzeit europaweit an finanziellen Löchern in den öffentlichen Haushalten infolge der Corona-Maßnahmen erwartet wird. Solcherart Verschuldung der öffentlichen Hand werden wir noch geraume Zeit mit uns herumschleppen, wenn die wirtschaftliche Belebung so stockend in die Gänge kommt, wie es derzeit den Anschein hat. Dennoch ist für uns in keiner Weise ersichtlich, inwiefern sich daraus die akute Notwendigkeit von Sparmaßnahmen in zweistelliger Millionenhöhe ergibt, es sei denn, man will unbedingt den aus dem EU-Fiskalpakt resultierenden Fehler des Jahres 2012 wiederholen, viel zu früh mit einer Sanierung der verschuldeten öffentlichen Haushalte zu beginnen und damit eine lang anhaltende Rezession zu provozieren.
Das Land Vorarlberg war zuletzt von Standard & Poors mit dem höchsten Rating bewertet, das für öffentliche Institutionen vergeben wird (AA+/A-1+). Die EZB hat angekündigt, dass sie die Zinsen weiterhin niedrig halten und zudem ihr Anleihekaufprogramm ausweiten wird. Das Land Vorarlberg kann sich folglich derzeit zu einem Zinssatz von in etwa 0,25% verschulden (bei einer angenommenen Verschuldung von 150 Mio. Euro also mit rund 400.000 Euro Zinsbelastung jährlich), und es besteht auf längere Zeit keine Gefahr, dass die Zinsen steigen. Unter diesen Vorzeichen ist nicht einmal im Ansatz eine bedenkliche Zusatzbelastung des Landeshaushaltes durch die von Ihnen erwartete Verschuldung zu erkennen. Die jährliche Zinsbelastung für 150 Mio. Euro entspricht den Leistungen für 18 Familien mit 1 Kind oder 27 Alleinstehende im jährlichen Vollbezug der neuen Sozialhilfe. Mit etwas mehr Ambitionen in der Armutsbekämpfung könnten Sie folgerichtig die aus der erwarteten Verschuldung resultierenden zusätzlichen (Zins-) Belastungen für den Landeshaushalt weitestgehend ausgleichen, indem Sie den prognostizierten Anstieg der MindestsicherungsbezieherInnen im genannten Umfang dämpfen. Ein von der Landesregierung ja bereits mehrfach angekündigtes Konjunkturprogramm mit Impulsen für den Arbeitsmarkt dürfte dabei hilfreich sein. Wie aus der letzten Landtagssitzung zu entnehmen war, befindet sich dieses Konjunkturprogramm bedauerlicherweise noch immer im Planungsstadium.
Dass Sie nun quasi im Vorgriff darauf schon einmal den Rotstift ausgerechnet beim Vorarlberger Jobmotor, dem Gesundheits- und Sozialwesen, ansetzen, ist irritierend. Dürfen wir Sie darauf hinweisen, dass im Vorarlberger Gesundheits- und Sozialwesen in den zurückliegenden 20 Jahren fast doppelt so viele Arbeitsplätze geschaffen wurden wie bspw. in der Warenproduktion/Industrie? Während die Möglichkeiten der Landesregierung doch eher bescheiden sind, in den stark von der Auslandsnachfrage abhängigen Branchen Tourismus und Industrie Konjunktur und Beschäftigung anzuregen, hätte die öffentliche Hand im Gesundheits- und Sozialwesen die Potenz, nicht nur Impulse zu setzen, sondern direkt Beschäftigung zu schaffen. Der zusätzliche Bedarf ist nicht erst in der Coronakrise deutlich geworden, einige der Felder, in denen Kapazitätsausweitung und Beschäftigungsaufbau erforderlich sind, haben die Landesrätinnen in ihrem Schreiben beispielhaft genannt: Pflege, insbesondere die Pflege in stationären Heimen, Schuldenberatung, Delogierungsprävention – die Liste ließe sich problemlos erweitern. Jede Pflegekraft, jede/r SozialarbeiterIn und jede Hilfskraft zusätzlich bedeuten (klimaneutrales) Wirtschaftswachstum und mehr Nachfrage, die insbesondere die kleinen und mittleren, binnenmarktorientierten Vorarlberger Betriebe auf längere Sicht dringend brauchen werden.
Allerdings gilt das nur, wenn es sich auch tatsächlich um zusätzliche Arbeit (-splätze) handelt. Die von Ihnen angekündigten Umschichtungen (hier etwas mehr, dafür dort weniger) sind konjunkturell nicht wirksam und geben keinerlei Impulse für den Arbeitsmarkt. Es ist deshalb auch völlig absurd, die von Ihnen angekündigten Kürzungen als Solidaritätsbeitrag des Sozialbereichs gegenüber Arbeitslosen zu bezeichnen. Das Gegenteil ist der Fall: Indem Sie den Jobmotor Gesundheits- und Sozialwesen zum Stottern bringen, entziehen Sie Vorarlberger Betrieben Nachfrage, gefährden die Arbeitsplätze von (noch) Beschäftigten und helfen keinem einzigen Arbeitslosen. Es wird Zeit, dass Sie das Gesundheits- und Sozialwesen nicht mehr als Kostenfaktor betrachten, sondern als vor allem für den Arbeitsmarkt bedeutsamen Wirtschaftsfaktor, der künftig noch wichtiger werden wird. Oder was glauben Sie, wo die im Zuge der Digitalisierung im Produktionsbereich verloren gehenden Arbeitsplätze neu entstehen werden?
Nicht anders ist auch die in anderem Zusammenhang angekündigte Nulllohnrunde für Landesbedienstete zu bewerten, die sich zweifelsfrei auf im Auftrag der Landesregierung tätige Institutionen ausweiten wird. Wie die jüngsten Wirtschaftsdaten zeigen, marschiert die Eurozone schnurstracks auf eine Deflation zu. Die EZB stemmt sich vehement gegen diese Entwicklung, stellt Geld zur Verfügung und bittet die Staaten der Eurozone nahezu flehentlich, dieses Geld aufzunehmen, in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen und die prekäre Nachfragelücke zu schließen. Es wäre vor diesem Hintergrund ratsam, wenn die verantwortlichen PolitikerInnen in Österreich auf die SozialpartnerInnen einwirken würden, dass auch die aus volkswirtschaftlicher Vernunft bei den kommenden Lohnverhandlungen ihren Beitrag zur Stabilisierung der Nachfrage leisten und Lohnabschlüsse vereinbaren, die am oberen Rand des betriebswirtschaftlich Machbaren liegen. Doch was tut stattdessen die Vorarlberger Landesregierung? Sie geht mit „leuchtendem“ Beispiel voran und propagiert für ihren Zuständigkeitsbereich Nulllohnrunden! Dafür fehlt uns jegliches Verständnis.
Genauso Unverständnis erzeugt auch der von der Landesregierung verkündete Aufschub von Bauprojekten (u.a. im Spitalsbereich, Stadionbau in Lustenau u.a.m.), die im Hinblick auf ihre Arbeitsmarktrelevanz evaluiert werden sollen. Mit Verlaub: Was gibt es da zu evaluieren? Der überwiegende Teil der aus diesen Projekten resultierenden Aufträge geht an Vorarlberger Betriebe, darunter zahlreiche KMU, und schafft hierzulande Arbeit. Es wäre ratsam, solche Projekte vorzuziehen, statt sie aufzuschieben! Während Sie noch mit Erste Hilfe-Maßnahmen zur Sicherstellung der Liquidität notleidender Vorarlberger Betriebe beschäftigt sind, ziehen Sie diesen bereits den Boden unter den Füßen weg, auf dem sie ihr Überleben mittelfristig sichern könnten.
Aus den von Ihnen angekündigten Sparvorhaben lässt sich in Summe eine deflationär wirkende Finanzpolitik erkennen, von der man nur hoffen kann, dass sie in Europa keine Nachahmer findet. Es hat den Anschein, als hätte die Landesregierung überhaupt keine Konsequenzen gezogen aus den Fehlern des Spar- und Fiskalpaktes der EU 2012. Im Gegenteil: Seinerzeit begann die fatale, verfrühte Sanierung der öffentlichen Haushalte erst nach einer wirtschaftlichen Erholung, Sie wollen bereits sparen, bevor es überhaupt zu einer Erholung gekommen ist.
Sie behindern damit die wirtschaftliche Erholung, gefährden Arbeitsplätze von (noch) Beschäftigen und werden die ohnehin schon hohe Armutsgefährdung im Lande weiter nach oben treiben. Wir erleben in den Beratungsstellen zur Existenzsicherung gerade den Zustrom ganz neuer Bevölkerungsgruppen in die Mindestsicherung, deren Motivlage keineswegs der von der ÖVP gerne unterstellte Drang in eine soziale Hängematte ist: Sie können vielmehr mit der AMS-Unterstützung nach Arbeitsplatzverlust oder Kurzarbeit ihre Existenz nicht mehr sichern. Die Landesregierung ist derzeit ganz offensichtlich bestrebt, diese Menschen zu DauerbezieherInnen zu machen.
Wir empfehlen Ihnen dringend, die Grundannahmen für Ihr noch in Arbeit befindliches Konjunkturprogramm noch einmal zu überdenken. Nicht die Schulden, die Sie jetzt aufnehmen, werden künftige Generationen belasten, sondern die Einsparungen, die Sie jetzt vornehmen und die die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Zukunft massiv verschlechtern werden.
Last but not least: Sehen Sie in Ihrem Konjunkturprogramm bitte eine Erhöhung der Wohnbeihilfe für Menschen mit geringem Einkommen vor und schöpfen Sie die Möglichkeiten des Bundesgrundsatzgesetzes für die Sozialhilfe voll aus. Dies ist in Ihrem derzeitigen Entwurf weder beim Wohnbedarf, noch bei den Kinderrichtsätzen der Fall. Diese Sozialleistungen werden bekanntermaßen eins zu eins in Konsum bzw. Nachfrage umgesetzt und sind deshalb mit hoher Treffsicherheit konjunkturwirksam.
Mit freundlichen Grüßen
für die Vorarlberger Armutskonferenz
Michael Diettrich
Veröffentlicht am 23.6.2020